NACHRUF AUF SWETLANA SIKORA

Letzte Woche erreichte uns eine traurige Nachricht aus Litauen: Swetlana Sikora, langjährige künstlerische Leiterin von goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films, ist in ihrer Heimatstadt Vilnius verstorben. Unser allerherzlichstes Beileid und Mitgefühl gelten Swetlanas Familie.

Claudia Dillmann, ehemalige Direktorin des Deutschen Filmmuseums und des Deutschen Filminstituts – DIF e.V. in Frankfurt am Main sowie Gründerin von goEast, erinnert sich und verfasste diesen Nachruf:

Es wäre schwerlich möglich gewesen, um 1999 ein Festival des Mittel- und osteuropäischen Films ohne Swetlana Sikora anzudenken. Das damalige Deutsche Institut für Filmkunde (DIF), eine kleine, geschätzte Anlaufstelle für filmhistorische Forschung in Frankfurt und Wiesbaden, schien ein eher unwahrscheinlicher Kandidat für ein neues, publikumswirksames, auf Größe bedachtes kulturelles Ereignis in der Landeshauptstadt, was diese aber ins Gespräch gebracht hatte. Die plausiblen Gründe, es dennoch zu wagen, lagen nicht allein in der Tradition des Instituts, das noch in den 1980er Jahren osteuropäische Filmwochen veranstaltet hatte oder in der zeitgenössischen Zuversicht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ein gemeinsames europäisches Haus bauen, kulturell Brücken schlagen zu können – wesentlich war auch die Gewissheit hauseigener Expertise. Swetlana Sikora, eine zart gebaute Frau von außerordentlicher Zurückhaltung, seit 1992 still und stetig im Zeitschriftenarchiv arbeitend, kam nämlich plötzlich aus der Deckung und mit überraschendem Selbstbewusstsein verkündete sie, sie habe schließlich in Moskau am renommierten VGIK Filmwissenschaften studiert, in ihrer Heimatstadt, dem litauischen Vilnius, filmkulturell gearbeitet und brenne für die Kinematographien Mittel- und Osteuropas. Und auf die Frage, ob sie gewillt sei, die künstlerische Leitung des noch zu gründenden Festivals zu übernehmen, sagte Sweta, die sonst Zögerliche, mit fester Stimme „Ja“.

© goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films // Swetlana Sikora bei goEast 2010

© goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films // Swetlana Sikora, Christine Kopf und Claudia Dillmann bei der Festivaleröffnung 2009

 

Für das Team erwies sich goEast, 2001 erstmals veranstaltet, als Neuland, für Sweta wurde das Festival zum Beginn eines neuen Lebensabschnitts: raus aus dem Archiv, hinein in die Welt; zu internationalen Festivals reisen, Begegnungen und Gespräche mit Filmschaffenden erleben, Kontakte in die Branche knüpfen, repräsentieren, verhandeln, überzeugen und Filme, Filme, Filme sichten, sie in Datenbanken eintragen, sie bewerten, priorisieren, in der Auswahlkommission debattieren und am Ende, erschöpft, aber glücklich im „Caligari“ das Lob und den Dank der Fachbesucher:innen entgegen nehmen.

Sweta, aufgeregt, aufgekratzt, strahlend. Sie brach mit ihrem alten Leben, zog von Mainz nach Frankfurt in die Nähe des Instituts, schloss Freundschaften, auch mit Kolleginnen, genoss ihren neuen Status. Aber nach dem Festival ist vor dem Festival. Zehnmal hat sie für goEast vor allem das Programm der aktuellen Filme aus Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken künstlerisch verantwortet – eine Arbeit, die Selbständigkeit verlangt, aber niemals frei von Konkurrenzdruck ist, die beglückend sein kann, aber auch bedrückend, die über lange Strecken hinweg die Grenzen zwischen Beruf und Freizeit verwischt, die jedesmal neu und aufregend erscheint, aber zugleich dem Rhythmus des Festivaljahres unerbittlich unterworfen ist.

Die zarte Person, die in ihrer Fragilität oftmals Anlass zur Sorge gab (selbst eingefleischte Raucherinnen baten sie, weniger zu rauchen und mehr zu essen), erwies sich indes als beinhart, wenn es galt, Filme, die ihr wichtig waren, gegen anderslautende Meinungen zu verteidigen. Sie liebte die eigenwilligen, artifiziellen Filme aus Mittel- und Osteuropa, die sich ihr leichter erschlossen als womöglich dem westdeutschen Publikum oder manchem Mitglied der Auswahlkommission, das auf der Konsumierbarkeit der Werke und der Ausgewogenheit des Wettbewerbs bestand. Sweta verstand es zu kämpfen, auf ihre Art, nie laut fordernd, sondern dadurch, dass sie durch beharrliches Insistieren hoffte, die Gegner:innen ihrer Ansichten mit der Zeit mürbe zu machen. Und manchmal hatte sie ganz einfach recht, wenn sie – stolz einen Dokumentarfilm in einem frühen Stadium ergattert zu haben – erleben musste, wie er in hitzigen Debatten abgelehnt wurde, um danach auf diversen Festivals Preise einzuheimsen. Ab 2005 nahmen solche Kämpfe ab, präsentierte Sweta doch ihre eigene, neue Sektion „Signatur“, basierend auf ihrer persönlichen Auswahl von scheinbar quer zu allem stehenden Filmen, die auch untereinander schwerlich auf einen Nenner zu bringen waren (wie es im Katalog hieß), es sei denn dem, dass sie alle Sweta am Herzen lagen.

© goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films // Swetlana Sikora und Alik Shpiliuk in der Caligari FilmBühne (2004)

© goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films // Swetlana Sikora und Kira Muratova (2009)

 

Außerhalb solch professioneller Meinungsvielfalt, auch in der ruhigeren Zeit nach dem Festival, ließen sich private Aspekte des guten Lebens unbeschwert genießen: Sweta war eine wundervolle Gastgeberin, glücklich, wenn die Teammitglieder den Pelmeni und dem Wodka zusprachen, freigiebig mit Koseformen der Namen, sensibel, zugewandt und jederzeit hilfsbereit, wenn es um die Probleme anderer ging. Ihre eigenen gab sie nur zögerlich, erst nach Jahren preis: die Aussicht auf eine Zukunft, die wegen der zu erwartenden niedrigen Rente nicht hierzulande möglich war, die Sorge um ihre in Vilnius lebende Mutter, die voraussichtliche Rückkehr nach Litauen und, damit einhergehend, der drohende Verlust ihrer Beziehungen in Frankfurt. Sie klagte nicht, sie schilderte. Als sie 2010 die künstlerische Leitung von goEast aufgab, weil es ihr nach zehn Ausgaben genug war und sie meinte, ihre Kräfte ließen nach, ging sie zurück an einen stillen Schreibtisch im Archiv.

Vier Jahre später verließ sie das DIF, das Team, ihr Netzwerk und zog nach Vilnius, wo sie alte Freundschaften wieder aufnahm, sich um ihre Mutter kümmerte und von ihrem Schreibtisch aus, auf dem nun eine Katze saß, aufmerksam weiter alle Entwicklungen in der mittel- und osteuropäischen Filmszene verfolgte.

Das Heimweh nach Frankfurt begleitete sie. Und wieder klagte sie nicht, sondern schilderte und entsann sich vor allem der glücklichen Momente aus der gemeinsamen Vergangenheit.

Auch wir erinnern die. Wie wir Swetlana Sikora, unsere Svetochka, erinnern. Und wir werden sie nicht vergessen.

© goEast - Festival des mittel- und osteuropäischen Films // Teambild mit Swetlana Sikora und goEast-Organisationsleiterin Karin Schyle© goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films // Teambild mit Swetlana Sikora und goEast-Organisationsleiterin Karin Schyle