Wilhelm Genazino

deutscher Schriftsteller

Wilhelm Genazino [genaˈtsiːno] (* 22. Januar 1943 in Mannheim; † 12. Dezember 2018 in Frankfurt am Main[1][2]) war ein deutscher Schriftsteller. 2004 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

Wilhelm Genazino auf der Frankfurter Buchmesse 2016

Wilhelm Genazino, dessen Vorfahren aus Italien stammen, wuchs in einfachen Verhältnissen mit drei Geschwistern in Mannheim auf. Dort besuchte er zunächst die Volksschule und dann das Gymnasium, das er noch vor der Erlangung des Abiturs verließ. Anschließend absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung.[3]

Im Anschluss daran begann er, journalistisch tätig zu werden, zunächst als freier Mitarbeiter, dann als Volontär und Redakteur bei der Rhein-Neckar-Zeitung in Heidelberg und Mannheim. Später war er bis 1971 Redakteur bei der Frankfurter Satire-Zeitschrift Pardon. Von 1980 bis 1986 war er Mitherausgeber der Zeitschrift Lesezeichen. Ab Anfang der 1970er Jahre konnte er von seinem Einkommen als freiberuflicher Schriftsteller leben. Nach dem Abitur, das er erst im Alter von fast 40 Jahren ablegte, studierte Genazino von 1984 bis 1989 Germanistik, Philosophie und Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Nach seinem Studienabschluss arbeitete er als freier Journalist und Redakteur.[4]

Von 1970 bis 1998 lebte er in Frankfurt am Main. Vom 30. August 1996 bis 29. August 1997 war er Stadtschreiber von Bergen. 1997/98 hatte Genazino die Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller inne. Ab 1998 lebte er in Heidelberg, bevor er 2004 nach Frankfurt zurückkehrte. 2004 erhielt er den bedeutendsten deutschen Literaturpreis, den damals mit 40.000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, in der er ab 1990 Mitglied war. Im Wintersemester 2005/06 hielt er an der Frankfurter Universität die Frankfurter Poetik-Vorlesungen unter dem Titel Die Belebung der toten Winkel. Im Sommersemester 2009 hielt er eine „Poetikprofessur“ genannte kleine Vorlesungsreihe an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. 2011 wurde er in die Berliner Akademie der Künste gewählt. Sein Roman Wenn wir Tiere wären wurde für den Deutschen Buchpreis 2011 nominiert.

 
Grab auf dem Frankfurter Hauptfriedhof

Genazino wurde in den späten 1970er Jahren bekannt durch seine Abschaffel-Trilogie über das Innenleben eines isoliert lebenden kleinen Angestellten. Diese wurde 2011 zur gemeinsamen Lektüre im Rahmen der Veranstaltungsreihe Frankfurt liest ein Buch ausgewählt.

In seinen Romanen und Essays griff Wilhelm Genazino einzelne Bilder aus dem unscheinbaren Alltag heraus und beschrieb sie minutiös. Seine Beschreibungen resultieren aus einer zeitlich gedehnten Betrachtung von konkreten Einzelheiten. Auf diese intensive Art der Wahrnehmung bezieht sich der Titel seines Essays Der gedehnte Blick. Neben seinen Romanen und Essays hat er auch zahlreiche Hörspiele verfasst. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, unter anderem ins Englische, Französische, Griechische, Italienische, Litauische, Niederländische, Russische, Slowenische, Spanische, Tschechische und Ungarische.

Klaus Reichert berichtete in seiner Trauerrede vom 4. Januar 2019 auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, Genazino habe ihm gesagt, „die wichtigste Lektüre der letzten zehn Jahre sei für ihn die der Tagebücher von Virginia Woolf gewesen“.[5]

Im Mai 2012 wurde bekanntgegeben, dass Genazino sein Archiv an das Deutsche Literaturarchiv Marbach übereigne.[6]

Er wohnte in Frankfurt-Westend, hatte zwei Kinder und drei Arbeitszimmer, aber weder Auto noch Fernseher.[7] Er starb im Dezember 2018 im Alter von 75 Jahren nach kurzer Krankheit in Frankfurt am Main. Sein Grab befindet sich auf dem Frankfurter Hauptfriedhof.

Werkbeschreibung

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Autograph

Das dichterische Werk Genazinos ist vom Gehalt her resignativ, ein Grundzug, der jedoch durch den offenen und mitunter verhalten optimistischen Schluss eines jeden Werkes abgemildert wird.

Im Mittelpunkt seiner Prosa steht meist ein Mann mittleren Alters (zwischen 30 und 50 Jahre alt) in einer mittelgroßen deutschen Stadt mit einer Arbeit, die vom gesellschaftlichen Ansehen im Mittelfeld zu finden ist und vom Protagonisten eher gleichgültig, mitunter widerwillig, aber auch ohne Hassgefühle oder Sabotage-Akte ausgeführt wird – vielmehr konzentriert er sich auf sein Umfeld und die gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Protagonist unterhält fast immer mindestens eine sexuelle Beziehung mit Frauen. Während die Äußerlichkeiten der im Mittelpunkt stehenden männlichen Person nur am Rande oder gar nicht beschrieben werden, wird bei jenen der Frauen etwas mehr ins Detail gegangen. Die Frauen erfüllen die gesellschaftlichen Anforderungen an Attraktivität, ohne besonders hervorzustechen. Aus den Texten erschließt sich, dass das auch auf die männlichen Protagonisten zutrifft, die demnach weder besonders schön noch hässlich, groß noch klein, dünn noch dick sind.

Der Protagonist hat im Allgemeinen den Glauben an erfüllende Partnerschaften verloren, steht aber im Grunde positiv zu seinen jeweiligen Partnerinnen. Charakteristisch sind detailliert beschriebene Streifzüge durch die Stadt (oft als Frankfurt erkennbar), durch die sich der Protagonist in bessere Stimmung zu bringen versucht. Dabei begegnen ihm häufig alte Bekannte, Frauen oder Männer, die ihm stets wohlgesinnt sind, sodass es bei Frauen auch zu lockeren Affären kommen kann.

Typisch für alle Romane Genazinos ist die hochdifferenzierte Beobachtungsgabe der Personen, die immer wieder zu sehr ausführlichen Beschreibungen scheinbarer Banalitäten führt, die dann aber in eigenwillige, teils skurril erscheinende Einsichten münden. Diese unterstreichen seinen impliziten Anspruch, das Besondere im Allgemeinen zu sehen, die Absurdität des Alltags, wie sie von durchschnittlichen Bewohnern durchschnittlicher Städte im Hier und Jetzt erlebt wird. Obwohl die detailliert beschriebenen Gedankengänge ein gewisses Bildungsniveau und vor allem Interesse an der Gesellschaft erkennbar machen, gibt es keinerlei explizite Hinweise auf kulturelle, politische oder wissenschaftliche Hintergründe oder Einflüsse.

Diese inhaltlichen Tendenzen bei Genazino wirken sich auf die Struktur seiner Prosa aus. Ein Handlungsstrang ist nicht klar erkennbar, im Vordergrund steht die Beschreibung der Gegenwart; er war der bekannteste Flaneur in der Literaturszene des frühen 21. Jahrhunderts in Deutschland.[8] Die Handlung ist durch Schilderung, Kulturkritik und Selbstreflexion ersetzt.

Auszeichnungen

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Weitere Veröffentlichungen

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  • Vom Ufer aus. Göttingen 1990.
  • Aus der Ferne. Texte und Postkarten. Reinbek bei Hamburg 1993.
  • Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers. Münster 1994.
  • Mitteilungen an die Freunde. Zum Preis der LiteraTour Nord. Frankfurt am Main 1996.
  • Achtung Baustelle. Essay-Sammlung. Frankfurt am Main 1998.
  • Über das Komische: der außengeleitete Humor. Paderborner Universitätsreden. Paderborn 1998.
  • Der gedehnte Blick. Essay-Sammlung. Frankfurt am Main 1999.
  • Auf der Kippe. Texte zu Postkarten und Fotos. Reinbek bei Hamburg 2000.
  • Karnickel und Fliederbüsche, violett. Kiel 2001.
  • Aus dem Tagebuch der Vergangenheit. In: Text und Kritik, 162. München 2004.
  • Fühlen Sie sich alarmiert. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2005. Hg. Ralph Schock. Gollenstein, Blieskastel 2005, ISBN 3-938823-00-3 [Rede auch bereits im Jahr 1999 gehalten].
  • Lieber Gott mach mich blind. (Uraufführung Staatstheater Darmstadt, Oktober 2005), Frankfurt 2003, München 2006 und Der Hausschrat. München 2006, Mülheim 2007. (Theaterstücke)
  • Die Belebung der toten Winkel. Poetikvorlesungen. München 2006.
  • Idyllen in der Halbnatur. Essays und Reden. München 2012.
  • Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. München 2013.
  • Claus-Ulrich Bielefeld, Gespräch mit Wilhelm Genazino. In: Sinn und Form, 4/2010, S. 518–523.
  • »Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Wilhelm Genazino im Gespräch mit Ralph Schock. In: Sinn und Form. 2/2019, S. 161–167.
  • Die Angst vor der Penetranz des Wirklichen (= Heidelberger Poetikvorlesungen, Bd. 6). Hrsg. von Friederike Reents. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020, ISBN 978-3-8253-4740-6.
  • Der Traum des Beobachters : Aufzeichnungen 1972–2018. Ausgewählt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Bürger und Friedhelm Marx. Carl Hanser Verlag, München 2023, ISBN 978-3-446-27620-8.

Herausgeberschaft

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  • Beruf: Künstler. Frankfurt am Main 1983.
  • Istanbul, „sterbende Schöne“ zwischen Orient und Okzident? Corso, Hamburg 2011, ISBN 978-3-86260-021-2.

Literatur

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  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Wilhelm Genazino. Edition Text + Kritik, München 2004, ISBN 3-88377-755-2.
  • Andrea Bartl, Friedhelm Marx (Hrsg.): Verstehensanfänge. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. Wallstein, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0845-9 (= Poiesis. Standpunkte zur Gegenwartsliteratur, 7).
  • Jonas Fansa: Unterwegs im Monolog. Poetologische Konzeptionen in der Prosa Wilhelm Genazinos. Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, ISBN 3-8260-3744-8.
  • Alexander Fischer: Wider das System: Der gesellschaftliche Aussteiger in Genazinos „Ein Regenschirm für diesen Tag“ und literarische Verwandte bei Kleist und Kafka. UBP, Bamberg 2012, ISBN 978-3-86309-086-9.
  • Alexander Fischer: Im existentiellen Zwiespalt. Wilhelm Genazinos „Ein Regenschirm für diesen Tag“ vor dem Hintergrund existenzphilosophischer Konzepte. In: Andrea Bartl, Annika Klinge (Hg.): Transitkunst. Studien zur Literatur 1890–2010. UBP, Bamberg 2012 (= Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien, Bd. 5), S. 411–429.
  • Winfried Giesen (Hrsg.): Wilhelm Genazino – „Die Belebung der toten Winkel“. Begleitheft zur Ausstellung 11. Januar – 25. Februar 2006, Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Frankfurt 2006, ISBN 3-88131-100-9.
  • Aktualisiertes Verzeichnis der unselbstständig erschienenen Primärliteratur Wilhelm Genazinos. Von 1961 bis 2014, zusammengestellt von Winfried Giesen.
  • Wilhelm Genazino – Sekundärliteratur. Von 1963 bis 2014, zusammengestellt von Winfried Giesen.
  • Anja Hirsch: Schwebeglück der Literatur. Der Erzähler Wilhelm Genazino. Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2006, ISBN 3-935025-88-2.
  • Günter Helmes: „In zwei Formen gleichzeitig leben“? Zu Wilhelm Genazinos Heidelberger Poetikvorlesungen „Die Angst vor der Penetranz des Wirklichen“. In: literaturkritik.de, 04/2021, S. 123–130.
  • Joachim Jacob: Schönheit, Literatur und Lebenskunst. Überlegungen zu Peter Handkes „Versuch über den geglückten Tag“ und Wilhelm Genazinos „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“. In: Susanne Krepold, Christian Krepold (Hrsg.): Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur. Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, S. 185–199.
  • Ulrich Klappstein: Ein Flaneur für diesen Tag. Eine lexikalische Annäherung an den Schriftsteller Wilhelm Genazino. In: Hartmut Fischer (Hrsg.): Flanieren – Gehen – Wandern. Northeim 2011 (= Begleitband der gleichnamigen Ausstellung des Heimatmuseums Northeim).
  • Christian Krepold: „…als sei das Ende des Menschen die einzige ordentliche Verrichtung“. Altern, Melancholie und Komik bei Wilhelm Genazino und Italo Svevo. In: Andrea Bartl (Hrsg.): Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wißner, Augsburg 2009 (= Germanistik und Gegenwartsliteratur, 4), S. 55–101.
  • Susanne Krepold, Christian Krepold: Literarische Selbstreflexion durch Lektüre. Wilhelm Genazino als Leser von Marguerite Duras. In: Steffen Buch, Álvaro Ceballos, Christian Gerth (Hrsg.): Selbstreflexivität. Beiträge zum 23. Forum Junge Romanistik (Göttingen, 30. Mai–2. Juni 2007). Romanistischer Verlag, Bonn 2008 (Forum Junge Romanistik, 14), S. 107–124.
  • Nils Lehnert: Wilhelm Genazinos Romanfiguren. Erzähltheoretische und (literatur-)psychologische Zugriffe auf Handlungsmotivation und Eindruckssteuerung. De Gruyter, Berlin 2018, ISBN 978-3-11-062535-6 (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen, 30).
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Commons: Wilhelm Genazino – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Wilhelm Genazino ist tot. In: Zeit. 14. Dezember 2018, abgerufen am 14. Dezember 2018.
  2. Helmut Böttiger zum Tod von Wilhelm Genazino - "Er war ein großartiger Beobachter von Alltagsphänomenen". In: Deutschlandfunk Kultur. Abgerufen am 15. Dezember 2018.
  3. Thomas Schaefer: Wilhelm Genazino - Der Traum des Beobachters. In: Konkret. März 2023, S. 54.
  4. Büchnerpreisträger: Wilhelm Genazino ist tot, spiegel.de, 14. Dezember 2018
  5. Klaus Reichert: Vom Mitschreiben der vergehenden Zeit. Gedenkrede für Wilhelm Genazino. In: Sinn und Form. 2/2019, S. 281–284
  6. PM 33/2012. Archiv von Wilhelm Genazino geht nach Marbach. Pressemitteilung. Deutsches Literaturarchiv. Marbach. 31. Mai 2012. Abgerufen am 3. Januar 2016.
  7. Unbekannte Überschrift. In: ndr.de. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 19. Dezember 2018; abgerufen am 12. März 2024.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ndr.de
  8. Zum Tod von Wilhelm Genazino : „Stille Verzweiflung“. Nachruf in der FAZ vom 14. Dezember 2018, abgerufen am 15. Dezember 2018.
  9. Pressemitteilung der verleihenden Stiftung vom 15. August 2012 (PDF; 129 kB)
  10. Seite der Univ. Heidelberg