Die Gartenlaube (1882)/Heft 40
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No. 40. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
Spätsommer.
Das Leben blüht im Sonnenschein des Glücks.“
„Ja, meine Herren, es ist Mai; in diesem Jahre weiß auch ich einmal mit dem Fortgange des Frühlings Bescheid, denn – ich bin umgezogen,“ äußerte im Fluge der Unterhaltung, welche bei einem eiligen „Frühschoppen“ stattfand, der Architekt Arndt gegen einige Bekannte, mit denen er des Vormittags in einem Locale der Hauptstadt zusammen zu treffen pflegte.
„Umgezogen? Mit oder ohne Familie?“ fragte ein älterer Herr.
„Ohne! Ich habe die bevorstehenden Monate schärfer zu arbeiten, als sonst; deshalb mußte ich mich von der Mutter und den Geschwistern einstweilen trennen, um unabhängig zu sein.“
„Haben Sie die Wohnung mit dem Gärtchen genommen?“ erkundigte sich ein jüngeres Mitglied der Tafelrunde.
„Ja, die ‚mit dem Gärtchen‘!“ erwiderte Arndt, flüchtig lächelnd. „Ich würde Ihnen dieses Stückchen gepachteten Residenzfrühlings von Herzen gern überlassen.“
„Ich bin es gewohnt, daß man in Berlin über meine Naturschwärmerei spottet,“ meinte der junge Mann aus der Provinz bescheiden.
„Ah!“ sagte Arndt, indem er nach der Uhr sah und sich hastig erhob, „Sie nennen solch ein Bischen gedrechselten Strauchwerkes ‚Natur‘? Wir Berliner denken höher von der Natur, obgleich wir sie nicht kennen. Wir sind eben in Allem blasirt. – Auf Ihr Wohl, meine Herren!“ Bei diesen Worten stürzte er den Rest seines Seidels hinunter, grüßte und entfernte sich.
Arndt war stets der Letzte, welcher kam, und der Erste, welcher ging. Aber wenn er einmal ganz fehlte, fühlte man sich unbehaglich. Er war entschieden ein bedeutender Mensch, und wenn er keinen sehr ausgiebigen Gesellschafter abgab, so lag das in seinen besonderen Verhältnissen.
Die Mitglieder des „Frühschoppens“ waren durchaus einer und derselben Meinung, was die Vorzüge Georg Arndt’s betraf.
Fast seit er erwachsen war, hatte er als ältester Sohn einer verwaisten Familie für den Lebensunterhalt der Seinen zu sorgen gehabt. Seine Kräfte – die physischen wie die moralischen – waren an dieser Aufgabe erstarkt, aber die stolzen Träume eines lebhaften Knabenherzens vor den harten Anforderungen der Pflicht zu Schanden geworden. Arndt’s Charakter hatte in den Kämpfen des Lebens Nahrung gefunden, aber seine Phantasie hatte hungern müssen. Statt – wie es ein junger Architekt doch soll – über Länder und Meere zu ziehen und die großen Nationalbauten der Völker unter ihrem heimischen Himmel zu schauen, oder die Denkmale eines einzelnen Genius dort zu erblicken, wo die Natur sie dem Geiste des Künstlers gleichsam vorgedacht hat, und sie nun wie in dankbarer Huldigung mit einer stillen, großen Harmonie umgab – statt an alle jene Orte zu gehen, welche seinen Geschmack gereift und sein architektonisches Urtheil erweitert haben würden, hatte er sich und seine Fähigkeiten auf den gemeinen Markt des Lebens zu stellen gehabt.
Er hatte es gern gethan, weil er der Stimme einer natürlichen Pflicht gehorchte und die Seinen liebte, wie jeder Starke den Schwachen liebt, welchem er wohlthut – ja, er hatte es gern gethan, weil er sich trotz alledem zu seiner Aufopferung zwingen mußte und es keine größeren Triumphe giebt als Selbstüberwindung. Aber je größer der Triumph, desto heißer wohl auch der Kampf, welcher ihn erringt. Die ironischen Falten und Fältchen um Arndt’s Mund und Schläfe waren die Narben der tief in das Lebensmark einschneidenden Wunden, welche ihm solch ein Kampf wieder und wieder geschlagen hatte.
Wer Arndt indessen einmal kannte, so wie er jetzt war, hätte diese ironischen Fältchen kaum entbehren mögen, denn sie machten sein regelmäßiges Gesicht, das im Uebrigen – wie auch seine ganze Erscheinung – etwas monumental Großartiges hatte, erst zu dem, was man „interessant“ nennt.
Auch hatte die Ironie des Architekten Arndt weder eine ätzende Schärfe, noch einen geistreich decorativen Anstrich, obgleich sie aus Resignation geboren war. Das lächelnde Berühren schmerzlicher Gegensätze gehörte nur in so weit zu seinem thatkräftigen Wesen, als auch ein intimer Freund gewissermaßen zu uns selbst gehört: der tägliche Gedankenaustausch mit ihm ist uns ein Bedürfniß geworden, doch der Kern des Wesens kann dabei selbstständig bleiben.
Einige Tage nach dem gelegentlichen Gespräch über seinen Wohnungswechsel wurde Arndt auf der Straße von dem jungen Manne aus der Provinz angeredet und bis in die unmittelbare Nähe seines neuen Domicils begleitet. Der „Naturschwärmer“ brachte alsbald wieder das Gärtchen auf’s Tapet und gestand, daß er Arndt täglich mehr um die Erlaubniß seines Wirthes beneide, dasselbe benutzen zu dürfen.
Der Architekt schenkte den Reden seines Begleiters nur eine sehr getheilte Aufmerksamkeit, denn er hatte den Kopf voller Geschäfte.
„Ja, ja,“ sagte er schließlich, „ich gebe Ihnen zu, daß ich in der Betrachtung des Gärtchens wieder höchst anspruchsvoll bin. Ich liebe aber nun einmal keine halben Genüsse – vielleicht, weil ich niemals in der Lage war, eine halbe Arbeit zu thun.“
[654] „Nun, über den Geschmack ist nicht zu streiten; mir – und wenn es auch nur wenige Augenblicke des Tages sind – würde der Aufenthalt ....“
„Wissen Sie, mein Bester,“ unterbrach Arndt den jungen Mann, „es sind doch in den meisten Fällen wirklich nicht die Dinge an sich, die den Werth einer Sache ausmachen, sondern das Unsichtbare, aber Eigenthümliche um sie her – ich meine: die Stimmung, welche sie einhüllt und sozusagen trägt, ungefähr wie die Sphäre den Weltkörper trägt. Und ich muß Ihren Wahn bewundern, daß man in Berlin, unmittelbar an einer lebhaften Straße in einem sechs Fuß breiten Garten diese Stimmung antreffen könnte, selbst wenn man Zeit hätte, sie zu suchen.“
Arndt hatte kaum ausgeredet, als er sich plötzlich von seinem Gefährten abwandte und das lebhafte Gesicht mit einem aufhorchenden Ausdruck gegen das besprochene Vorgärtchen kehrte – aber nur eine Secunde lang; dann widmete er sich wieder dem jungen Manne, und dieser bemerkte nicht, daß etwas Zerstreutes in den Zügen des Architekten zurück geblieben war.
Nach wenigen Schritten trennten sich die beiden Herren; denn Arndt war vor seiner neuen Wohnung in Nummer Elf angelangt. Er zögerte, bevor er die Klingel des Portiers drückte, und als er es schließlich dennoch that und im nämlichen Augenblick die Hausthür aufsprang, zog er dieselbe hastig wieder von außen zu, sah mechanisch die Straße herab, auf welcher sein jugendlicher Bekannter bereits verschwunden war, und trat dann zögernd mit einem eigenthümlichen Lächeln der Selbstverspottung in das seither verschmähte Paradies des kleinen Gartens ein.
Derselbe lief als schmaler Streifen die Front des Hauses entlang und erweiterte sich nach der einen Giebelseite hin zu einem kleinen Viereck. Er war nach der Straße zu mit eisernem Gitterwerk und spanischem Flieder eingefaßt, und das kleine viereckige Hauptstück wurde durch eben dieselbe Umfriedigung von den zu Nummer Zehn gehörigen Gartenanlagen getrennt; nur daß hier die Fliederbüsche schon etwas höher waren, weshalb sie die Aussicht oder richtiger gesagt: die Einsicht hinderten.
Trotzdem war es der Nachbargarten, welcher Arndt in diesem Augenblick seine Abneigung gegen das „Gärtchen“ überwinden ließ; denn in ihm hatte er vorhin von der Straße her Stimmen zu vernehmen geglaubt, welche ihn interessirten.
Schon während der ersten Wochen des Mais war er mehrmals beim Hinaustreten auf die Straße oder bei der Heimkehr in’s Haus an einer jungen Dame vorübergegangen, welche einen fünf- bis sechsjährigen Knaben an der Hand führte. Beide waren, wie er bald bemerkte, Bewohner des Nachbarhauses und hatten ihn seit der ersten Begegnung lebhafter beschäftigt, als andere Vorübergehende.
Sie sahen sich nicht ähnlich. Der Knabe war auffallend hellblond, und hatte sehr lebhafte, phantastische blaue Augen und einen großen, ungewöhnlich sprechenden Mund, gegen welche die kleine abgestumpfte Nase merkwürdig zurücktrat. Die Dame dagegen war entschieden dunkelblond, und die Züge ihres feinen Gesichts, in welchem die leicht gebogene Nase als besonders schön auffiel, wiesen auch nicht die geringste Aehnlichkeit mit denjenigen des Knaben auf. Trotzdem waren Beide Mutter und Sohn; denn Arndt hatte öfter im Vorbeigehen gehört, daß der stets aufgeregte und, wie es schien, namentlich beständig fragende Knabe seine Begleiterin „Mama“ nannte.
Sonderbar! Wie konnten Mutter und Sohn sich so unähnlich sein? Auch die Augen der Dame erinnerten in nichts an die ihres Sohnes; es waren große rehbraune, etwas verschleierte Augen mit einem geheimnißvollen, vorzugsweise sinnenden Ausdruck, der nur dann einem kurzen Aufleuchten wich, wenn der interessante Knabe sie etwas fragte und sie sich, lebhaft antwortend, zu ihm wandte, offenbar überrascht und erfreut über den Gegenstand, wie über die Art seiner Erkundigung. Wenn Arndt sie nicht von Anfang an mit dem Knaben zusammen gesehen hätte, würde er sie für ein ungewöhnlich fesselndes junges Mädchen mit schönen, aber eigenthümlich frauenhaften Augen gehalten haben.
Wer mochten Mutter und Sohn sein? Trotz unzähliger geschäftlicher Dinge, die ihn gerade jetzt belagerten, war Arndt doch immer wieder auf diese Frage zurückgekommen; der Knabe war eben kein gewöhnlicher Knabe und seine Mutter keine alltägliche Frau – sie interessirten ihn.
Deshalb gab er auch jetzt diesem eigenthümlichen Interesse nach und folgte ihren immer deutlicher werdenden Stimmen bis in die äußerste Ecke des Gärtchens, in welcher das Grenzgebüsch am höchsten war. Hier hatte der Wirth einen kleinen grünen Käfig angebracht, welchen er eine Laube nannte, und als Arndt jetzt in denselben eintrat, bemerkte er, daß sich in unmittelbarer Nähe des diesseitigen Gartenhäuschens auch ein jenseitiges befand.
Der Wirth hatte vor Kurzem seine Laube in Ordnung gebracht, das heißt: alle herabhängenden Zweige möglichst straff und gerade in die Höhe gebunden, wodurch an der einen Stelle eine kleine Lücke und somit ein Durchblick nach dem anstoßenden Garten entstanden war.
Diesen zu benutzen, konnte sich Arndt – trotz inneren Widerstrebens – nicht enthalten, und als er durch die Oeffnung des Gebüsches blickte, sah er, daß die Mutter auf einem niedrigen Stühlchen unter einem breitästigen Obstbaum saß, welcher sich aus der Mitte des grünen Rasenplatzes erhob, der einen Haupttheil ihres Gartens ausmachte, während der Knabe unausgesetzt um den Platz herumlief und mit hochrothem Gesichte einen Reifen vor sich hertrieb.
Arndt’s Blick blieb mit ungetheiltem Interesse auf der Mutter haften, welche er zum ersten Male in Hauskleidung, das heißt: ohne Hut und Umhang, sah. Sie trug glattgescheiteltes Haar und am Hinterkopfe eine starke Flechte, welche sie geschmackvoll um einen hohen Stamm gelegt hatte. Glanz hatte ihr Haar nicht, aber Arndt fand, daß die große Schlichtheit desselben gut zu dem feinen Gesichte und dem zarten Teint stand. Ihre Gestalt war schön und jugendlich voll, und es war gut, daß der zierliche Kopf von einer solchen getragen wurde, weil die ganze Erscheinung sonst einen fast zu idealen Ausdruck gehabt hätte.
Sie hatte Arndt das Profil zugekehrt; um ihren Mund lag ein schwärmerischer Zug, und die nicht ganz regelmäßig gebildete Stirn hatte etwas Geheimnisvoll-Energisches.
Plötzlich wandte sie sich so, daß er ihr auch voll in die Augen sehen konnte. Sie ließ ihre Handarbeit in den Schooß sinken und blickte lebhaft nach dem Knaben.
„Es ist heiß, Curt; laufe Dich nicht außer Athem!“ rief sie mit tiefem, weich metallenem Organ.
„O, ich hab’ noch viel Athem. Hör’ mal, Mama!" antwortete er wichtig, ließ den Reifen mitten im Wege liegen, stürzte auf sie zu und athmete mit aufgeregter Miene immer schnell hinter einander, indem er sich dabei auf die kleine Brust klopfte.
„Es ist schon gut, Narr; ich höre, wie prächtig Du athmen kannst,“ sagte sie und streichelte ihm mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Liebe und Fürsorge das kleine glühende Gesicht. – Da sah auch der Junge zu ihr empor, und in seinen Augen blitzte es vor leidenschaftlicher Zärtlichkeit auf, sodaß sich die Pupillen erweiterten und die Augen auf Secunden ganz dunkel erschienen. Auch lächelte er dabei so lieblich und glückstrahlend, daß er für einen Knaben fast unnatürlich hold aussah.
„Wart’!“ sagte die Dame plötzlich und sprang leichtfüßig wie ein Kind empor. „Sieh zu, ob Du mich greifen kannst?“
Der Kleine war außer sich vor Vergnügen, und unter lebhaftem Wetteifer liefen Mutter und Sohn mehrmals um den Rasen, bis die junge Frau schließlich das Ziel erreichte.
Sie stand jetzt wieder einen Augenblick mit dem Antlitze voll gegen Arndt gewendet; und ihm war, als sähe er plötzlich ein völlig verwandeltes Wesen vor sich. Ein wunderbar rührender, fast kindlicher Liebreiz hatte sich über ihre interessanten Züge ergossen. Ihre zarten Wangen glühten, und aus ihren großen frauenhaft ernsten Augen brach ein unschuldiges Schelmenglück hervor, das neckend, wie leuchtender Sonnenglanz, zu ihrem kleinen Gefährten hinüberspielte.
Doch alles dies war wie eine Fata Morgana – flüchtig, wie eine zauberhafte Spiegelung, welche dem Auge Dinge zeigt, die für gewöhnlich nicht in dem Kreise des Sichtbaren liegen.
So wie Arndt sie eben gesehen hatte, war sie vielleicht als Kind, als muthwilliges Mädchen gewesen; so hatte sie vielleicht gelacht und geblickt, ehe sie Frau geworden war.
Während der ungewöhnlich belustigte Curt mit erneutem Eifer sein Reifenspiel wieder aufnahm, setzte sich die Mutter auf ihr geschütztes Plätzchen zurück; ihr Blick wurde wieder innig gedankenwoll; ihre Bewegungen nahmen das alte sanfte Ebenmaß an, welches sie auszeichnete, und nur ihre Wangen waren noch lebhaft geröthet, als sie sich mit nachholendem Eifer über die Handarbeit beugte.
[655] Plötzlich hielt der nun ziemlich athemlose Knabe in seinem Spiel inne, blieb vor ihr stehen und fragte:
„Wenn man stirbt, hat man dann auch noch Athem?“
„Nein, Kind!“
„Sag’ mir mal, wie das ist beim Sterben!“ bat er lebhaft.
„Die Seele verläßt den Körper und steigt in den Himmel.“
„Ach! Was ist das – die Seele?“
„Alles, was in Dir nachdenkt, was in Dir traurig ist und sich freut, das ist Deine Seele,“ antwortete die junge Frau und blickte aufmerksam in die strahlend auf sie geachteten Augen des Kindes. „Die Seele ist das Licht, welches das Haus hell macht und aus Deinen beiden Augen herausleuchtet,“ fuhr sie dann fort. „Ja, so ist es; – gieb mir einen Kuß, Curt!“
Diese letzten Worte hatte sie ganz leise gesprochen – sie war leidenschaftlich bewegt.
„Mehr! Erzähl’ mir mehr vom Sterben, Mama! Jeder Mensch stirbt doch blos ein Mal, nicht wahr?“ fragte er dann plötzlich.
Da erblaßte die junge Frau und hob langsam den Kopf. Dann legte sie leise ihre Hand auf die Schulter des Kindes.
„Ja, nur einmal; es ist, als ob ein Licht ausgeblasen wird,“ sagte sie eigenthümlich kalt.
„Mama! Wer bläst denn das Licht aus? Der liebe Gott?“
Sie antwortete nicht und strich gedankenversunken mit der flachen Hand über ihre Arbeit. Da half sich der Knabe selbst.
„Ja, der liebe Gott thut’s,“ rief er. „Der liebe Gott mit seinem langen, langen Athem. O, so lang – so lang, ganz lang! Und dann stirbt der Mensch, und dann geht’s mit einem Ruck in den Himmel. – Weißt Du noch mehr vom Sterben, Mama?“
„Nein, Curt.“
„Ach, sag’ doch!“
„Curt!“
Beschämt schlich der Knabe davon, aber er konnte sich nicht völlig beherrschen; noch einmal drehte er sich um.
„Ich möcht’s doch so schrecklich gerne wissen.“
„Hast Du mich lieb?“ fragte sie mit sanftem Vorwurf, und kaum hatte sie es ausgesprochen, als das ungestüme Kind mit lautem zärtlichem Aufschluchzen in die Arme seiner Mutter stürzte. – –
„Es ist, als ob ein Licht ausgeblasen wird.“
Arndt konnte in den folgenden Wochen diese Worte gar nicht wieder vergessen und wußte nun gewisser als zuvor, daß es etwas in dem Leben seiner Nachbarin geben müsse, das sie erst zu dem gemacht hatte, was sie jetzt war.
Aber abgesehen von der eigenthümlichen Bedeutung, welche sie selbst diesen Worten zu geben schien und die auch er sofort nachempfunden hatte, erhielten dieselben bald einen besonderen Werth in seiner Erinnerung, waren sie doch so ziemlich das Letzte, was er zur Zeit von seiner interessanten Nachbarin hören sollte.
Dagegen trat ihm der Knabe noch einmal näher, ja kam sogar auf originelle Weise in persönliche Berührung mit ihm.
Die Jahreszeit war schon bis an die Grenze von Sommer und Herbst vorgeschritten, als Arndt an einem sonnigen Nachmittage in Erwartung eines Geschäftsfreundes hastig den kleinen, ihm nachgerade ganz vertraut gewordenen Garten auf- und niederschritt. Plötzlich flog ein bunter Ball vor ihm auf den Kiesweg und rollte in die vom Regen der verflossenen Nacht herabgeschlagenen Blätter. Gleichzeitig wurde es im Nebengarten lebendig.
„O Mama, mein Ball, mein Ball!“ rief der Knabe, während Arndt den verlorenen aufhob, „er ist in den fremden Garten geflogen!“
Arndt hielt den Ball in der erhobenen Rechten; er mußte lächeln über ein seltsames Gefühl von Feierlichkeit, das sich seiner bemächtigte. Geberdete er sich nicht, als ob das bunte Kinderspielzeug in seiner Hand eine kleine aus ihren Bahnen gestürzte Welt sei? Noch eine Secunde zögerte er; dann warf er schnell den Ball hinüber.
„Danke!“ jubelte es sofort helltönig auf. „Bist Du auch ein Junge oder bist Du ein Herr?“
„Ein Junge!“ rief Arndt neckend.
„Ha! Das ist nicht wahr. Du hast so eine Brummstimme,“ antwortete der übermüthige Kleine, diesmal mit Absicht den Ball über das Gebüsch fortschleudernd.
„Hoho!“ rief Arndt, ihn wieder zurückwerfend, und so flog das Ding eine gute Weile unter dem beständigen Gelächter Curt’s hinüber und herüber.
Endlich, als sich der Ball wieder einmal in Arndt’s Händen befand und er eben im Begriff war, ihn auch diesmal zurück zu befördern, rief Curt:
„Nein, nein! Ich komm’ und hol’ ihn mir selbst.“
„Desto besser, kleiner Nachbar!“ antwortete Arndt ermuthigend.
„Mama, ich will! – Soll ich? Ach ja! Es macht so schrecklich viel Spaß: Selbst holen, bitte, bitte!“
Die Mutter schien flüsternd ihre Erlaubniß zu ertheilen, und einige Minuten später empfing Arndt den Knaben am Eingange seines Gärtchens, wohin er ihm entgegen gegangen war. Der Kleine kam eilig herangelaufen, als er aber dem fremden Manne gegenüberstand, wurde er doch vor plötzlicher Verlegenheit dunkelroth.
„Nun?“ sagte Arndt, „es freut mich sehr, daß Du mich besuchst. Komm herein! Warum wolltest Du Deinen Ball denn so gerne selbst abholen?“
„Ha! Ich wollte wissen, wie Du aussiehst!“
„So? Nun, wie gefalle ich Dir denn?“
„O – sehr schön. – Bist Du schon sehr alt?“
„Fünfunddreißig,“ antwortete Arndt außerordentlich amüsirt.
„Und wie alt ist Deine Frau?“
„Ich habe keine. Aber Du, man kleiner Nachbar, hast gewiß Brüder? Wie?“
„Nein! Ich bete immer, Papa soll mir einen schicken, aber er thut’s nicht.“
„Wo ist denn Dein Papa?“ fragte Arndt lebhaft.
„Im Himmel! Schon bald zwei Jahre!“
Arndt war gedankenvoll stehen geblieben. Eine weitere Frage schwebte ihm auf den Lippen; doch in demselben Augenblicke sah er von der Straße her den erwarteten Freund herantreten, und kaum hatte er nach so viel Zeit, sich nach dem Namen des Kleinen zu erkundigen, ihn herzlich zu verabschieden und zu einer baldigen Wiederholung seines Besuches einzuladen, welche Curt auch auf das Eifrigste zusagte.
Es war Arndt Ernst mit seiner Aufforderung an das Kind gewesen, und als mehrere Tage vergingen, ohne daß sich dasselbe bei ihm blicken ließ, wurde er eigenthümlich enttäuscht; durch die Berührung mit dem Knaben und mittelbar mit seiner Mutter war etwas wie ein idealer Hauch in das hastige Treiben seines abstumpfenden Geschäftslebens gekommen, und er hätte gern mehr von diesem Hauche genossen, um ihn heimischer in sich werden zu lassen. Seit er wußte, daß seine Nachbarin Wittwe sei, war vielleicht seine Sympathie für sie um ein Geringes kühler geworden; denn es berührte ihn fremdartig, daß in ihrem Wesen keine unausgefüllte Lücke zu bemerken war. Mochte die junge Dame auch vorzugsweise ernst gestimmt sein, immerhin hatte ihr augenblickliches Sein etwas durchaus Harmonisches – weder etwas Zerrissenes noch etwas Gedrücktes, und eben das widerstrebte seiner energischen Empfindungsweise. Dagegen war das ungewöhnlich lebhafte objective Interesse, welches seine Nachbarin von vornherein in ihm erweckt hatte, nur noch gewachsen, seit jenes psychologische Räthsel, das ihr ganzes Auftreten umwebte, ihm durch die Enthüllung des Knaben unauflösbarer denn je erscheinen mußte. Ja, er gab sogar zur Zeit diesem Interesse so weit Raum, daß er eines Tages wirklich im Begriffe stand, der Dame geradezu seinen Besuch zu machen, indem er sich Formgewandtheit genug zutraute, sein im Uebrigen unbegründetes Erscheinen als eine dem Kleinen geltende Gegenvisite hinzustellen, und nur das unvermuthete Dazwischentreten des Knaben selbst hinderte ihn an der Ausführung seiner Absicht. Curt begegnete ihm nämlich, als er bereits im Begriffe war, in das Nachbarhaus einzutreten. Auf Arndt’s Frage, warum er noch nicht wieder bei ihm gewesen, erwiderte der Kleine unbefangen:
„Mama sagt, ich hätte nichts bei dem unbekannten Herrn zu suchen.“
Diese Antwort war natürlich entscheidend für Arndt; ebenso schnell, wie er gekommen war, kehrte er wieder um.
„Schade,“ dachte er bei sich selbst; „sehr schade! – Man begegnet so selten interessanten Leuten – immer sind es dieselben Dutzendausgaben – und hier … es soll mich doch wundern, was aus diesem Knaben wird.“
Auch würde er gern noch erfahren haben, ob die Dame wirklich die leibliche Mutter Curt’s sei. Er bezweifelte es zuweilen; denn er meinte, gegen sein eigen Fleisch und Blut wäre Niemand von so aufopfernder Geduld, wogegen wohl eine edle [656] und gebildete Frau fähig sein könne, ein Stiefkind mit völliger Selbstaufopferung und einer frommen, an Andacht grenzenden Scheu zu erziehen.
Der Kleine begleitete ihn noch bis an die Hausthür; dann sagte er sehr entschieden:
„So – weiter nicht! – Sag’ einmal, ist es hübsch in Deinen Stuben?“
„Nicht besonders!“
„Das freut mich wenigstens!“ und damit trollte das eigenthümliche kleine Menschenkind davon.
Dies war auch das Letzte, das Arndt zur Zeit von dem Knaben selbst vernahm, und da er schon vierzehn Tage später in einen fast entgegengesetzten Stadttheil zu seiner Familie zurückkehrte, durfte er sich kaum darüber wundern.
Jahre waren vergangen: ein Tag harter Arbeit hatte den anderen gedrängt und wie eine eherne Kette sich das Leben um die Seele des rastlosen Mannes geschmiedet. Er hatte die aufgebürdete Last, wie bisher, ohne Murren getragen, aber mehr und mehr sich älter gefühlt – älter als er war. –
Nichts von den Dingen der Außenwelt verstimmt so, wie ein trüber Sommertag. Ja, er kann mehr als verstimmen; denn er hat etwas in sich Verfehltes.
So ein Tag war heute. Wohin das Auge sah, ödes, einförmiges Grau! – Unmerkbar war die trübe Nacht in einen trüben Tag übergegangen. Schlaff und ausdruckslos spülte die Ostsee ihre farblosen Fluthen gegen den blassen Strand, und der Himmel hing schwer, wie eine leblose Masse über Meer und Erde. Fröstelnde Mißstimmung ging durch die ganze Natur, in welcher sich nichts regte, als ein leiser naßkalter Morgenwind.
Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – schritt der einsame Wanderer, den sein Weg unmittelbar am Ufer entlang führte, rüstig aus. Wenn er ein Maler war, so hatte er allerdings ein ganz besonderes Recht, sich für wenig begünstigt zu halten und – fern von einem liebevollen Eingehen auf die landschaftliche Umgebung – seinem Aerger in ungeduldiger Hast befreienden Ausdruck zu geben!
Aber nicht jeder einsame Wanderer an der Küste Rügens muß ja durchaus ein Maler sein! Der in aller Frühe hier so eilig Ausschreitende war der Architekt Georg Arndt.
Die brütende Sommerhitze der Residenz hatte ihn nach langen Jahren unausgesetzter Arbeit zum ersten Male wieder auf Urlaub getrieben. Er wollte sich eine bis zwei Wochen lang durch Rügensche Seebäder stärken und dann höher hinauf in den skandinavischen Norden gehn, wohin ihn das besondere Interesse einer Gesellschaft von Berufsgenossen führte, in deren Auftrag er mehrere alte Kirchen Norwegens zu besichtigen hatte.
Ein Freund von weiten Märschen und möglichst großer Unabhängigkeit, hatte er die üblichen Reisegelegenheiten der Insel, als da sind: kleine saubere Raddampfer, primitive Segelboote und noch primitivere Einspänner, unberücksichtigt gelassen, und nun war er auf dem Wege zu dem kleinen Dorfe, in welchem er Quartier nehmen wollte.
Wer ihm begegnet wäre, würde wohl bemerkt haben, daß er, abgesehen von der Zufälligkeit eines trüben Tages, nicht zu den sorglosen Vergnügungsreisenden gehörte. Ueber der selbstbewußten Kühnheit seiner breitgewölbten Stirn lag ein Schatten, älter als die Regenwolken des heutigem Morgens, und das kluge Auge, welches unter derselben aufblitzte, blickte ernst und gedankenvoll.
Trotzdem nahm sich seine Erscheinnug eigenthümlich an dem stillen Strande aus; denn seine energischen Bewegungen standen nicht im Einklang mit dieser sonnenlosen Natur, die gleichsam in mürrischer Trägheit dalag, um den drohenden Regen widerstandslos über sich ergehen zu lassen.
Mittlerweile fielen wirklich die ersten schweren Tropfen und zerplatzten auf der See in großen weißen Blasen, welche die bleierne Eintönigkeit des Wassers wunderlich unterbrachen.
„Endlich!“ sagte Arndt, als hätte er den Regen förmlich ersehnt.
Und kaum hatte er es gesagt, als die lähmende Stille um ihn her in ein ungeheures gleichmäßiges Rauschen überging. Man mochte blicken, wohin man wollte, rechts und links – vor und zurück – man sah nichts als Ströme herabfallenden Regens; es war, als hätte sich die Welt in Wasser aufgelöst und die unerschöpflichen Meere der Höhe ergössen sich in das Meer der Tiefe. Arndt warf sein Plaid um die Schultern, drückte den Hut in die Stirn und marschirte womöglich noch schneller als zuvor.
Plötzlich blieb er stehen und sah um sich: er hatte die Specialkarte der Insel ziemlich genau im Kopfe und wußte, daß kein größerer Ort in der Nähe sein konnte, aber möglicher Weise lag jenseits der Dünenkette ein vereinzelter Bauernhof.
Doch nichts dergleichen war zu erspähen; nur das schwarzgetheerte Dach einer bretternen Badehütte lugte melancholisch über die grauen Sandhügel herüber. Kaum hatte Arndt dasselbe entdeckt, als er seine Schritte landeinwärts lenkte und in die Dünen einbog. Daß die Hütte verschlossen war, machte ihn nur eine Secunde lang stutzig; mit der spitzen Zwinge seines Stockes fuhr er in die Oeffnung des Schlüsselloches, schob den ländlich einfachen Mechanismus zurück und öffnete die Thür, welche er dann von innen wieder hinter sich heranzog.
Wie ein lebendig Begrabener stand er in dem kleinen dunklen Raume, der so niedrig war, daß er in ihm kaum das Haupt aufrecht halten konnte.
Er tappte an den Wänden entlang und stieß nach wenigen Griffen an eine hölzerne Schiebe-Oeffnung, die sogleich zurückflog und ein trübes Dämmerlicht hereinließ. Nun nahm er Hut und Plaid ab und hing diese durchnäßten Gegenstände an der Wand auf; dann trat er an das Fensterchen und sah eine lange Weile hinaus: wann wohl das Schicksal einmal müde wurde, ihn zu verfolgen?
Etwas wie titanischer Trotz zog sich auf seiner Stirn zusammen, während sein lebhaftes Auge verständnißvoll über das traurig-öde Bild flog, das sich ihm durch den engen Rahmen der Oeffnung darbot. Eine halbe Stunde nach der andern verging, und es lag eine seltsame, fast unheimliche Gesetzmäßigkeit in dem langsamen bleischweren Herabfallen des Regens, ob er sich nun rechts in die todte See ergoß, oder zur Linken auf die bereits triefenden Dünen herniederklatschte.
Und alles in Allem hatte diese trübe, ungastliche Landschaft etwas geheimnißvoll Erregendes: ihr Anblick verdichtete alle Gedanken, und die trübe Stimmung, welche daraus erwuchs, störte feindselig jede beunruhigende Saite des Gemüthes auf, um sich trotzdem wie Blei an die Schwungkraft der Seele zu hängen.
Heinrich Frauenlob.
Sechshundert Jahre sind es her – da lebte im goldenen Mainz ein Dichter, dessen Liederruhm das ganze Abendland erfüllte. Er hatte sein Leben dem Cultus der Frauenverehrung geweiht, und als sein Schwanenlied verklungen, sein Augenstern auf immer erloschen war, da trugen ihn holde Frauen auf blumenbekränzter Bahre nach dem Kreuzgange im Mainzer Dome, stimmten Trauergesänge an, streuten Rosen und gossen Wein in Fülle auf des todten Dichters Gruft. Es war der große Dichter-Rafael, der gottbegnadete Sangespriester Heinrich Frauenlob, dem diese Todtenfeier galt, eine Huldigung, so sinnig und würdig zugleich, wie eine ähnliche selbst im alten Griechenland nie einem Homeriden zu Theil wurde.
An Leib und Seele schön und rein, ein Fürst im Königreich der Liebe, ein Glaubensheld voll Duldung und Milde, war Frauenlob im Lied und Leben der geborene Preissänger des Ewigweiblichen, lange bevor Schiller’s Mahnung: „Ehret die Frauen!“ erging.
Ueber Herkunft und Schicksal des Meisters waren seither keine näheren Mittheilungen bekannt; nur Vermuthungen gelangten darüber in die Oeffentlichkeit. So meinte ein Geschichtsforscher,
[657][658] Frauenlob sei wahrscheinlich von Geburt ein Elsässer, ein anderer, er stamme aus Meisenheim etc., während die Mehrzahl der Literarhistoriker annahm, er sei aus Meißen in Sachsen gebürtig. Letztere Annahme war insofern erklärlich, als ein Zeitgenosse Frauenlob’s, der bekannte Minnesinger Markgraf Heinrich von Meißen, mit dem er nicht selten verwechselt wird, dorther stammte. Warum aber nicht früher Licht in dieses Meinungsdunkel gelangte, mag in der Bequemlichkeit des Schlusses vom Namen auf den Geburtsort, wie auch in der Unmöglichkeit, die durch den Mainzer Dombrand 1793 vernichtete Dombibliothek zu benutzen, seine Erklärung finden; denn daß dieselbe über einen Mann von Frauenlob’s Bedeutung, der sogar im Dome selbst und auf so einzige Art begraben wurde, wichtige Aufschlüsse enthalten mußte, unterliegt wohl keinem Zweifel. Unter dieser Voraussetzung hat denn auch ein Mainzer Geschichtsforscher, Professor N. Müller, vor der erwähnten Katastrophe die Dombibliothek durchsucht und dabei wirklich eine Reihe auf Frauenlob bezüglicher Handschriften aus dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert excerpirt, jedenfalls um dieselben später bei einer wissenschaftlichen Arbeit zu verwenden. Müller starb, und seine Auszüge gelangten mit anderen seiner Manuscripte in einen Archivschrank der Mainzer Stadtbibliothek, wo sie in jahrelanger Vergessenheit lagen.
Durch Zufall fielen sie dem Verfasser dieser Skizze in die Hände, und gaben so Veranlassung zu seiner rhythmischen Erzählung über Frauenlob’s Leben und Dichten (Mainz, Verlag von Victor von Zabern, 1881. 2. Auflage. Nach Müller’s Auszügen ist Frauenlob zu Mainz im Jahre 1270 geboren und sein genauer Familienname, einem Meisenvogel in seinem Wappenbilde entsprechend, Heinrich zur Meise oder Henricus ad parum. Sein Vater war der Stadtrath Diether zur Meise, seine Mutter eine Brentza von Guldenrade. Ein älterer Bruder Alban, der frühe starb, und zwei Schwestern, Jutta, die den Klosterschleier nahm, und Liba, die aus Gram über die Treulosigkeit ihres Geliebten hinwelkte, sind seine Geschwister. Für erste Pflege und Bildung des vielversprechenden Knaben sorgte außer der edlen, aber kränklichen Mutter die treue Wärterin Maria Bardal, eine reichbegabte, harfenspiel- und liederkundige Frau, der sich im Anfange noch eine junge Bäuerin, Monika, als Amme gesellte. So genoß Frauenlob schon in der Wiege dreifach der Frauen Liebe.
Ein Jahr alt, konnte er gehen und viele Worte sprechen; zweijährig betete er ohne Hülfe das Vaterunser, und nachdem er im sechsten Lebensmai den Pater Justus Labiolus vom Albansstifte zum Lehrer erhalten hatte, konnte er in kürzester Frist lesen, schreiben, rechnen und singen, ja sogar Verse reimen. Unter den Spielgenossen seiner Kindheit hervorragend, sicherte ihm schon damals überall seine Ueberlegenheit den ersten Platz.
Doch mehr als das laute Getriebe der Außenwelt reizte ihn die stille Burgcapelle. Oft kniete er dort in einsamer Andacht vor dem Altarbilde und kränzte es mit Blumen. Schon hier, im zartesten Knabenalter, tritt Frauenlob’s stark ausgeprägte Religiosität und ein ungewöhnlicher Hang zur mystischen Schwärmerei hervor, Eigenschaften, die alle seine Werke, nicht immer zu deren Vortheile, kennzeichnen. Jetzt bringt sein Vetter, der Hofmarschall Arnold zur Rusen, den dreizehnjährigen Jüngling an den kurfürstlichen Hof, und Kurfürst Werner findet Wohlgefallen an dem jungen Schwärmer; er giebt ihm eine Domherrnpfründe und sucht ihn zum Eintritt in den Priesterstand zu bereden, doch des feurigen Jünglings Wünsche sind nicht so entsagender Natur; ihn locken Ritterruhm und Minnesold; ihn treibt es hinaus in die schöne Gotteswelt zu Sängerfesten und Turnieren.
Es beginnt ein fröhliches, wechselvolles Wanderleben, reich an Siegen im Frauenkreise und im Liederstreit. Bald streift er, hoch zu Roß, durch die Lande bis hin nach Basel, labt sich im Vorüberflug an Liebfrauenmilch, dem weltberühmten Weine des alten Worms, kniet sinnend vor der Kaisergruft im Speierer Dome oder sitzt bewundernd am Modell der Münsterkirche in Meister Erwin Steinbach’s Werkstatt zu Straßburg; bald aber zieht er mit befreundeten Sängern zu Schiffe durch den Rheingau und preist im Kölner Dome den spätgeborenen Enkel glücklich, der diesen Wunderbau einst vollendet schauen wird; in Aachen wohnt er der Kaiserkrönung Adolf’s von Nassau bei, und in Trier weilt er an den Trümmern der alten Römerpracht.
Immer weiter dehnen sich jetzt seine Sängerfahrten aus; vom Rhein bis zum Meer und den Alpen verbreitet sich sein Ruhm. Markgraf Heinrich von Meißen, Fürst Witzlaw von Rügen, Herzog Friedrich von Mecklenburg, Graf Hugo von Pommern und viele andere Fürsten und Herren bewirthen bei sich den rheinischen Troubadour, lauschen entzückt seinem herrlichen Gesange und sind Zeugen seiner großartigen Erfolge. Aber mehr noch ist es der Frauen Gunst, die ihm zu Theil wird. Von seines Pathen Dusberg rosigem Töchterlein begonnen, reiht sich Blume an Blume in dem Frauenkranze, der sein Leben blühend umwob. Hier bestrickt sein Herz ein schönes Bäschen, Edeltrudis von Guldenrade; dort nimmt ihm Arnold von Walpoden’s zarte Tochter Teutolinde die Sinne gefangen, dann aber erglüht er in Minne zu der liebeheißen Gräfin Isengardis oder wendet sich Erwin Steinbach’s maienholdem Kinde Emma zu; dem Lobe der keuschen Liebe und dem ehelichen Glücke galten die meisten seiner Dichtungen, und dabei trat er bei jeder Gelegenheit für die Bezeichnung Frau statt Weib mit Eifer ein, wie denn sein berühmter Sangstreit mit Barthel Regenbogen über dieses Thema ein glänzendes Zeugniß von Frauenlob’s idealer Auffassung der weiblichen Natur ablegt. Jahrelang zog er singend umher, und immer höher stieg sein Ansehen, immer größer ward sein Ruhm. Aber daheim waren inzwischen alle seine Lieben zur ewigen Ruhe gebettet, und es zog ihn mächtig zu ihren Gräbern. Die letzten sieben Lebensjahre brachte er dauernd in seiner Vaterstadt zu.
In diese Zeit fällt auch seine Gründung der ersten Meistersingerschule, eine in ihren Folgen von unberechenbarem Segen begleitete That, die allein ihm die Unsterblichkeit gesichert hätte. Sein Haus in Mainz war fortan eine Stätte, von der kein Bittender ohne Gabe, kein Betrübter ohne Trost schied, wo wöchentlich dreimal die Armen gespeist wurden.
Das Volk verehrte den Dichter zuletzt fast wie einen Heiligen. Oft geschah es, daß ihm Frauen bei seinem Austritt aus der Kirche Blumen auf den Weg streuten, und häufig ward ihm nach damaliger Sitte der Wein gespendet. Da – kurz vor dem St. Andreastage 1318 – gab der Bürgermeister Adelbald ein großes Fest, wobei auch Frauenlob zugegen und als Sieger im Wettgesange das Ziel allgemeiner Huldigung war. Doch ein welscher Mitsänger mit Namen Servatio, erzürnt wegen der eigenen Niederlage, mischte heimlich Gift in Frauenlob’s Becher und entfloh. So starb der Sänger durch sein Lied. Unbeschreiblich war die Trauer in der ganzen Stadt bei dieser Kunde. Eine Scene aus seinem bereits oben erwähnten Begräbnisse stellt das auf Seite 657 nach dem Originale von Professor Bendemann wiedergegebene Bild dar.
Um zum Schlusse auch die Eigenart Frauenlobischer Dichtkunst durch eine kleine Probe zu charakterisiren, möge hier der folgende, aus dem Mittelhochdeutschen beinahe wörtlich übertragene Spruch eine Stelle finden:
„Leidvertreib.
Ich sprech’ es aus auf meinen Eid,
Daß es in aller Welt nichts giebt,
Das so versüßet Sorg’ und Leid,
Als wie ein Weib, das innig liebt.
O, wie es wohl dabei dem Mann
Muß sein, wenn sie ihn lächelt an
Als trautes, spiegelreines Weib!
Den Spiegel heiß’ ich Leidvertreib.“
Alfred Börckel.
Auf dem höchsten Gipfel des deutschen Reiches.
Auf der großen Veranda des am Badersee gelegenen vortrefflichen Gast- und Pensionshauses „Schäfter“ war kürzlich eine Gruppe Norddeutscher um den daselbst aufgestellten Tubus versammelt und schaute nach der Zugspitze aus, die sich in der Nähe von Partenkirchen an der Grenze zwischen Tirol und Baiern 2980 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Vergeblich suchten die Touristen nach dem doch sonst von hier aus sichtbaren Zugspitzkreuze.
Merkwürdig! Es war heute nicht zu finden. Da gab denn der freundliche Wirth die willkommene Aufklärung:
„Meine Herrschaften, die Sache ist einfach diese: man hat [659] das im Jahre 1851 errichtete Kreuz als dringend reparaturbedürftig herabgenommen, um es, frisch vergoldet, auf der einige Meter höheren Ostspitze am 25. August, dem Namens- und Geburtsfeste unseres Königs, wieder aufzustellen.“
Was der wackere Wirth des Gasthauses „Schäfter“ seinen Gästen noch sonst an interessanten Daten zur Geschichte des Zugspitzkreuzes erzählte, das und einiges Andere dürfte heute, nach der soeben vollbrachten Uebertragung des Kreuzes auf seinen neuen Standort auch dem großen Leserkreise der „Gartenlaube“ nicht uninteressant sein, und da ist denn zuerst zu bemerken, daß es Ott, der frühere Pfarrer und Observator auf dem Hohen Peissenberg (Baierns Rigi), war, welcher zuerst den Entschluß faßte, dem König der deutschen Bergwelt zu einem Schmucke zu verhelfen, wie ihn andere, minder ebenbürtige Berggipfel bereits trugen. Man hatte schon längst, bevor Ott diese Anregung gab, die Zugspitze zu besteigen gewagt. Der Erste, der dies unternahm, war der damalige Lieutenant im königlichen topographischen Bureau, Josef Naus, welcher als Generalmajor im Jahre 1871 starb. Es war am 26. August 1820, als er das kühne Unternehmen in Begleitung seines Bedienten und unter Führung eines gewissen Johann Georg Deusch’l von Partenkirchen unternahm.
Leider verbietet uns der Mangel an Raum, hier einen Auszug aus dem höchst interessanten Tagebuche dieser ersten Besteigung zu bringen. Ihr folgten rasch andere: 1823 wurde der Ostgipfel durch Simon Resch von Partenkirchen, 1835 und 1838 durch Feuerstein (von Ehrwald aus durch’s Schneekahr), 1849 und 1850 durch den sogenannten Zugspitzjackel, den Knecht des Pfarrer Ott, bestiegen; der Letztgenannte übernachtete auch zwei Mal auf der Spitze und pflanzte für seinen Herrn eine junge Tanne dort auf, um so die Stelle einstweilen zu bezeichnen, wo das Krenz zu stehen kommen sollte.
Letzteres zu beschaffen, eröffnete Pfarrer Ott eine öffentliche Subscription, welche in kurzer Zeit die Summe von 600 Gulden zusammenbrachte. So konnte denn Meister Kiesel in Schongau nach einer vom königlichen Bergmeister Hailer in Berchtesgaden gefertigten Zeichnung die Ausführung des Kreuzes übernehmen, welches eine Höhe von vierzehn Fuß erhielt und ganz aus Eisen gearbeitet war; die einzelnen Theile desselben wurden durch platirte Röhren verdeckt, und das eigentliche mit Strahlen geschmückte Kreuz ruhte auf einer zwei Fuß im Durchmesser haltenden, kupfernen, gut vergoldeten Kugel, in der auch die Urkunde aufbewahrt wurde. Das Ganze war, des leichteren Transportes halber, in achtundzwanzig Theile zerlegbar und wog über drei Centner.
Wer von Partenkirchen durch die großartige, wildromantische Partnachklamm, welche die Gletscherwasser des großen Schneeferner in wildem Toben durchströmen, circa eine Stunde aufsteigt, gelangt zu einigen alten, malerischen Bauernhäusern und dem Forsthause Vorder-Graseck. Daselbst hauste volle dreißig Jahre, von 1838 bis 1868, der königliche Forstwart Kiendel, eine urkräftige, biedere Jägererscheinung, wie solche heutzutage leider immer seltener werden.
Kiendel war es, welcher unter unsäglichen Mühen und großen Gefahren die seither für unersteiglich gehaltene Dreithorspitze bestieg. Eine dreißigjährige Dienstzeit verschaffte ihm die genaueste Kenntniß seines schwierigen Reviers, wozu auch die Zugspitze gehörte, und so war es die geeignetste Wahl, die man treffen konnte, als man ihn zum Führer der Expedition ernannte, welche damit betraut war, das auf 19 Traglasten vertheilte Kreuz auf dem höchsten Gipfel des deutschen Reiches auszurichten.
Am 11. August 1851 brach man von Partenkirchen auf. Durch die Partnachklamm gelangte man um 11 Uhr beim Rainthaler Bauern an, einem in erhabenster Bergeinsamkeit gelegenen Hof, jetzt Besitzthum und Sommerfrische des Hofpredigers Stöcker, der während seines dortigen Aufenthaltes einige Male in dem vielbesuchten schon den Römern bekannten Kainzenbad zu predigen pflegt. An der Partnach entlang kam man zur „Blauen Gumpe“ und zur Dämmerungszeit an die Angerhütte, den Aufenthalt des Ziegenhirten, wo man Nachtrast hielt. Spät in der Nacht – um dies nebenbei zu bemerken – traf hier zur Gesellschaft noch der erst Abend 8 Uhr von Farchant (1 Stunde vor Partenkirchen) aufgebrochene fünfundzwanzigjährige Forstgehülfe Bauer, nachdem er den ganzen Tag hindurch sein Revier begangen und einen Gemsbock nach Hause gebracht – eine Riesenleistung!
Einen malerischen Anblick gewährte der um 2½ Uhr Morgens beim Scheine der Kienfackeln erfolgende Aufbruch. Der Weg wurde nun beschwerlicher. Mit Tagesanbruch erstieg man das sogenannte Platt, ein mit mächtigem Geröll überschüttetes, zum Plattadner Ferner aufsteigendes Trümmerfeld, und als die ersten Sonnenstrahlen die nun sichtbar werdende Zugspitze golden gegen den tiefblauen Himmel abgrenzten, erreichte man den Schneeferner, gegen 2600 Meter über dem Meere.
Hier in der dünnen, schneidend kalten Luft war alles Leben erstorben; nichts regte sich – nur in den hier und da den Gletscher durchkreuzenden Rissen hörte man tief unten das Eiswasser rauschen, welches dann später als Partnachfall so malerisch zu Tage tritt. Ohne sonderliche Mühe überschritt man den Ferner, um dann um so mühsamer die Sandreißen und das Geglätt zu überwinden, wo die abrollenden schweren Steine den Nachsteigenden öfters Gefahr drohten. Nachdem noch ein steiler, von einigen Felsen überragter Schneehang passirt, erreichte man endlich den Grat oder das Joch, unter dessen zerfressenem Kamm tief unten das Höllenthal in dunkler Nacht heraufgähnte. Das Ziel lag den kühnen Wanderern vor Augen, und – bewunderungswürdig genug! – der damals schon über 24 Stunden in den Bergen herumsteigende Jäger Bauer war der Erste, der mit seinem Stutzen, den treuen Hund zur Seite, den Zugspitzgipfel erreichte.
Nach 9 Uhr Morgens war die ganze Gesellschaft auf der Spitze versammelt, aber leider hatten die mittlerweile aufgestiegenen Nebel die Fernsicht arg beeinträchtigt und wogten, einem Meere gleich, auf und nieder, während über dem Gipfel der Himmel blaute. Nach kurzer Rast schritt man zur Festigung des Kreuzes, zu welchem Zwecke das sehr beschränkte, aus losem Geröll bestehende Terrain erst auf circa 2 Fuß Tiefe abgeräumt werden mußte. Ein mit großer Mühe 15 Zoll tief in den harten Stein gebohrtes Loch nahm das 29 Pfund schwere, 2 Zoll dicke untere Kreuzstangentheil auf, und nun wurden die übrigen Theile mit Seilen hinaufgezogen und befestigt, d. h. vernietet. Ein schauerlicher Anblick war es, als 3 Männer unter größter Lebensgefahr auf den äußersten, kaum 2 Fuß breiten Zinnen des von 2600 Meter tiefen Abgründen umgähnten Gipfels mit todesverachtendem Muthe das Kreuz endlich zum Stehen brachten.
Unter mancherlei Gefahren wurde alsdann, nach glücklich vollbrachtem Werke, der Abstieg begonnen; die Gesellschaft brachte wiederum in der Angerhütte die Nacht zu, um anderen Tages in Partenkirchen jubelnd empfangen zu werden. Einer aber aus der Mitte der tapferen Bergsteiger wählte sich einen besonderen Abstieg – der schon mehrmals erwähnte Jäger Bauer. Er hatte bereits um 12 Uhr die Spitze verlassen, um auf der noch ungekannten Westseite auf kürzerem, völlig ungebahntem Wege zum Loitaschthale abzusteigen – ein wahrhaft wagehalsiges Unternehmen; denn an der Nord- und Westseite der Zugspitze erheben sich die Wände viel steiler und kahler, oft senkrecht, nur von furchtbaren Klüften und Schneefeldern unterbrochen. Kein Mensch, keine Gemse, ja kein Wirbelthier hat es bis jetzt gewagt, diese von ewiger Vernichtung umstarrten, höchstens vom Steinadler umkreisten Räume zu betreten. Aber alles dies schreckte den kühnen Gemsjäger, den seine Genossen mit Zagen und Zittern scheiden sahen, von seinem Wagnisse nicht ab. Unerschrocken machte er sich auf den Weg, nur von einem Genossen begleitet, von seinem treuen Gebirgsdachs, den er noch dazu tragen mußte; denn der arme Hund hatte sich auf der achtundzwanzigstündigen Wanderung über scharfes Gestein die Füße wund gelaufen, sodaß ihn sein Herr nur im Rucksack transportiren konnte.
Anfangs ging für den geübten Steiger der Abstieg, wenn auch langsam, so doch sicher von Statten; Bauer passirte mit Geschick loses Gestein, kahle, schlüpferige Platten und Schneereste, bis er sich auf einmal am Rand einer schiefen glatten Steinplatte befand, welche nach allen Seiten ein fürchterlicher Abgrund umgähnte, der selbst dem an solche Bilder gewöhnten Jäger Grausen und Entsetzen einflößte. Es war eine fürchterliche Lage, in der er sich befand: Ueber ihm steile Felswände, einige tausend Fuß hoch, unter ihm der Abgrund – was blieb dem zum Tode Erschrockenen übrig, als entweder umzukehren oder den verzweifelten Sprung in’s Schneekahr zu wagen? Entsetzliche Alternative! Ersteres zu vollbringen reichten nach mehr als dreißigstündigem Marsch seine Kräfte nicht mehr aus. Ein kurzes Ueberlegen! Rasch entschloß sich Bauer zum Sprung in die Tiefe des Kahrs. Der Hund mußte zuerst die Probe bestehen; die Angst und der Trieb der [660] Selbsterhaltung brachten das Mitleid für seinen liebsten Gefährten zum Schweigen.
„Falls der Hund die Glieder bricht“ – so sagte sich Bauer – ist ja der sichere Doppelstutzen zur Hand, um den Qualen des Thieres schnell ein Ende zu machen – und dann meinen eigenen.“
Der treue „Di“ – so hieß der Dackel – flog also, um die schreckliche Probe zu bestehen, hinab in die schauerliche Tiefe, und welche Ermuthigung! – er arbeitete sich unversehrt aus dem zum Glück nicht gefrorenen Lawinenrest heraus, mit verzeihlicher Sehnsucht zu seinem Herrn emporschauend. Der Stutzen flog nach und blieb im Schnee stecken. Leib und Seele Gott vertrauend, wagte nun auch Bauer den gewaltigen Todessprung, um glücklich bei Hund und Gewehr anzulangen.
Ein Rückwärtssteigen war nun absolut unmöglich geworden; denn wo er forschte – nichts als überragende Wände, in den phantastischsten Gestalten steil aufragend. Schier verzweifelnd und sein Wagniß bitter bereuend, lagerte sich Bauer zu kurzer Rast am äußersten Ende des Schneekahrs, schon überlegend, ob er dem langsamen Untergange durch Hunger und Kälte nicht doch noch mittelst eines Schusses zuvorkommen sollte. Gegenüber dem Jammer eines so fürchterlichen Endes hatte der schnelle energische Jägertod fast etwas dämonisch Verlockendes, etwas Süßes, Poetisches. Noch einmal raffte er sich auf, das ganze Kahr absuchend, und kehrte zur Stelle des Sprunges zurück; dort schimmerte tief unten wie ein Rettungsstern der Spiegel des Eibsees – und wahrlich! hier boten sich dem schier Verzweifelnden einige Spalten im Geschröffe, welche, allerdings unter beständiger Lebensgefahr (der Hund befand sich wieder im Rucksack), den Abstieg nach einigen Graslahnen ermöglichten. Mit diesem Blick in das Leben der Natur kehrten auch dem todtmüden Bauer die Lebensgeister zurück. Er stieg rüstig thalab; an den sogenannten Thöreln, einem Schwärzersteig zwischen Baiern und Tirol, sah er die ersten Menschen, welche absolut nicht glauben wollten, daß er aus diesem Teufelsgewänd herabgestiegen. 0, welche Wonne füllte sein Herz beim wiedergewonnenen Anblicke menschlicher Gesichter, beim ersten Klange menschlicher Stimmen! Um vier Uhr traf er in Greinau ein, hoch und theuer sich verschwörend, diese Tour nicht zum zweiten Mal zu unternehmen, und andern Tags fand er sich mit der ganzen Kreuzfahrergesellschaft wohlbehalten in Partenkirchen zusammen. Beim Himmel! Das war ein kühner Spaziergang gewesen, tapferer Jägersmann!
Soweit die Geschichte der ersten Kreuzaufrichtung.
Seitdem wurde die Zugspitze von vielen Hunderten bestiegen, unter bald mehr, bald weniger schwierigen Verhältnissen. Der An- und Abstieg über Ehrwald und auf der Eibseeseite wurde ebenfalls im Laufe der Zeit durch Sprengungen und Einlassen von Drahtseilen erleichtert, und zeichneten sich bei dieser Gelegenheit besonders die Brüder Bernhard und Franz Johannes, Ersterer der in Partenkirchen lebende weit und breit für Hochgebirgsaufnahmen berühmte Hofphotograph, durch kühnes Steigen aus.
Ein wesentliches Moment in der Geschichte des Berges bildete die unter Kiendel’s Leitung durch Maurermeister Resch von Partenkirchen am Rande des Schneeferner massiv erbaute Knorrhütte, nach Kaufmann Knorr in München also genannt, welcher den größten Theil der Baukosten aus eigenen Mitteln bestritt. Als dieselbe für den stets größer werdenden Verkehr zu klein wurde, ließ die Section „München“ des „Deutsch-österreichischen Alpenvereins“ die Unterkunftshütte bedeutend vergrößern, und jetzt findet man daselbst allen Comfort und alle Hülfsmittel, wie sie diese Schutzhäuser zu bieten pflegen.
Diese erleichterten Verkehrsmittel hoben natürlich die Frequenz auf der Zugspitze wesentlich. Auf wie viele rüstige Bergsteiger hat das Kreuz von 1851 inzwischen freundlich herabgewinkt! Aber das sinnige Wahrzeichen auf dem höchsten Gipfel des deutschen Reichs war inzwischen ein Invalide geworden: es wurde morsch und schwach, während unser deutsches Reich erst erstand und zu glorreicher Macht heranwuchs. Trotz mehrfacher Reparaturen war durch Blitzschläge (wie viele geschmolzene Kupferkügelchen und andere Anzeichen beweisen) sehr baufällig geworden. Auch der Boden, auf welchem es stand, war durch Blitzschlag, mehr aber noch durch den jähen Wechsel der Temperatur und die da durch entstandene Eissprengung derartig brüchig geworden, daß ein längeres Belassen des Kreuzes daselbst gefährlich erscheinen mußte. Mehrfache Vorstellungen um Abhülfe fanden bei der Section, zu deren speciellem Wirkungsgebiet die Zugspitze gehörte, nicht den Anklang, den einige für die Sache hochbegeisterte Mitglieder gewünscht hätten, und eines der eifrigsten derselben, Magistratsrath Krieger, beschloß daher nebst einigen Freunden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Der Opferwilligkeit dieser Männer gelang es, durchzusetzen, daß das Kreuz vollständig reparirt, Kuppel und Strahlen aber schwer vergoldet wurden und daß seine Aufstellung auf dem Ostgipfel der Zugspitze beschlossen ward.
Mitte August dieses Jahres nun wurden die letzten Vorbereitungen zur Kreuzerrichtung getroffen. Allmählich langten in Garmisch, Partenkirchen und am Badersee, einzeln oder in Gruppen, [661] kräftige, gebräunte Männergestalten an: Den Rucksack auf dem Rücken, angethan mit der derben Lodenjoppe und kurzen gems- oder hirschledernen Hosen, die Waden von rauhem Wollstrumpf umschlossen, der Knie und Knöchel freiließ, an den Füßen schwergenagelte Bergschuhe, auf dem Kopfe aber ein keckes Hütl mit irgend einer Feder oder einem Blümerl geschmückt – so tauchten sie überall im Thal und auf den Höhen auf; sofort erkannte man, daß diese Gäste des Gebirgs nicht zu den sogenannten Bergfexen gehörten, welche in letzterer Zeit für das Hochgebirge mehr und mehr eine so lächerliche Staffage abgeben. Es waren meist Mitglieder des „Deutsch-österreichischen Alpenvereins“ der Section „München“, die sich hier zusammenfanden, um die Zugspitze zu besteigen und zugleich die Vorarbeiten zur Kreuzerrichtung auf dem Ostgipfel, welche unter Leitung des bewährten Zugspitzführers Praxmaier von Garmisch stattgefunden, zu besichtigen.
Bei denkbarst ungünstiger Witterung wurde die Expedition zur Aufrichtung des Kreuzes am 24. August unter Max Krieger’s Führung unternommen. Um halb neun Uhr Morgens brach man von Garmisch auf, nachdem die einzelnen Theile des Kreuzes, in neunzehn Stücke zerlegt, an die Träger vertheilt worden waren. Nach einem kurzen Halt in Partenkirchen, wo vom Bürgermeister und Pfarrer dem Unternehmen Glück gewünscht wurde, zog die Karawane rüstig dem Forsthause Vorder-Graseck zu, um dort eine einstündige Rast zu halten. Punkt zwölf Uhr war Aufbruch. Die Expedition zählte einundzwanzig Touristen, meist Mitglieder des Alpenvereins und des Turner-Alpenkränzchens Münchens (darunter zwei junge Damen), sieben Führer und fünfzehn Träger. Steil hinab führte wieder der Steig fast so tief, als man vorher aufwärts gestiegen, und dann immer an der Partnach entlang, dieselbe dreimal überschreitend, nach Einmündung der Bodenlahn in dieselbe steil aufwärts durch den Stuibenwald, um an der großartig schönen hinteren Klamm vorbei nach zweieinhalbstündigem Marsche die sogenannte Bockhütte zu erreichen. An der „Blauen-Gumpen-Hütte“ vorbei, gelangte man zur Angerhütte und endlich gegen dreiviertel sieben Uhr zur Knorrhütte, die von der müden Wanderschaar jauchzend begrüßt wurde.
Nun ging’s an’s Kochen und Braten; frisches Fleisch und Conserven, Eier, Butter, Milch, Käse, Brod, Alles war ja in Ueberfluß vorhanden, desgleichen Bier, Wein und andere Spirituosen. Unter Tanz und Gesang verging rasch die Zeit, und dann wurde noch die von Herrn Krieger verfaßte neue Urkunde, welche kalligraphisch prachtvoll ausgeführt war, verlesen, darauf aber, mit den Unterschriften der Anwesenden versehen, in eine Blechbüchse versiegelt, um später im Kreuze eingeschlossen zu werden.
Das Nachtlager ließ allerdings viel zu wünschen übrig; denn Viele mußten auf Bänken und Tischen oder auf dem Boden liegen. Ein eisiger Wind umstürmte die Hütte, und als man Morgens in’s Freie trat, lag tiefer Neuschnee. Schon gab es traurige Gesichter, und Mancher bezweifelte, ob man der Aufgabe heute noch gerecht werden könne. Doch um sechs Uhr hellte es sich immer mehr auf, und um halb sieben Uhr wurde aufgebrochen; mühevoll ging es durch den über einen Fuß tiefen Schnee vorwärts; nach einer halben Stunde waren wir im weißen Thale und hatten nach abermals einer halben Stunde den großen Schneeferner erreicht, um unter prachtvollen Aussichtsmomenten nach weiteren dreiviertel Stunden den sogenannten Kamin anzusteigen. Da jetzt der schwierigste Theil des Weges begann, wurde eine kleine Rast gehalten. Bewundernswerth war die Sicherheit der Führer und Träger, die mit ihren mitunter sechszig Pfund schweren Lasten leicht und sicher die schwierigsten Felswände erklommen. In einer Viertelstunde war die „Nase“ erreicht, ein vorspringender Felsen, der mit Hülfe eines eingenieteten Drahtseils umstiegen werden mußte. Nun hatte man den Grat erklommen, in scheinbar senkrechter Tiefe unter sich den Eibsee, Badersee, Ober- und Untergrainau etc., alles wie eine bunte Landkarte ausgebreitet. Einstündiges, nur Schwindelfreien mögliches Steigen führte zum früheren Standpunkte des Kreuzes, dem Westgipfel der Zugspitze, wo der größere Theil der Gesellschaft theils aus Erschöpfung, theils aber auch, weil auf dem Ostgipfel kaum Platz für die mit der Kreuzaufrichtung Beschäftigten war, zurückblieb und sich zu längerer hochwillkommener Rast niederließ.
Um zehneinviertel Uhr langten die Träger auf dem Ostgipfel an, worauf die einzelnen Theile des Kreuzes sofort ausgepackt, Leitern aufgestellt und mit der Montirung des Kreuzes begonnen [662] wurde. Vorher war der stark zerklüftete Boden durch Bohren und Sprengung bis zum gewachsenen Fels abgeräumt worden, und in diesen Fels hinein arbeitete man nun den Stahlbohrer an wuchtiger Stange, welche sodann als Hauptstütze fest eingegossen wurde.
Die Montirung des Kreuzes, eine halsbrechende, schwindelerregende Arbeit, besorgten mit gewohnter Bravour Babenstuber und Schweiger in München unter Assistenz von Max Krieger und einiger Freunde und Träger, und so war um halb zwölf Uhr das Kreuz fertig; es wurde mit einem Blitzableiter neuer Construction versehen, einem Geschenk und der eigenen Erfindung des Locomotiven- und Maschinenfabrikbesitzers Kernaul in München.
Unsere Illustration zeigt den Moment, wo die beiden genannten Herren das letzte Kreuztheil aufsetzen. Nun wurde von Max Krieger, der auf unserem Bilde links die Leiter hält, die Urkunde im Kreuz verschlossen, während die Leitungsdrähte des Blitzableiters von einigen Trägern möglichst tief in’s Höllenthal gelegt wurden. Als Vorstand der ganzen Expedition brachte Max Krieger alsdann noch ein begeistertes Hoch auf den Landesvater aus, der, wie im Eingange bemerkt, gerade zu jener Stunde sein Geburts- und Namensfest inmitten seiner geliebten Berge und seines treuen Volkes feierte. Dann begann wieder der Abstieg, und als die kleine Truppe auf dem Westgipfel mit den Uebrigen auf’s Neue vereinigt war, da ertönten begeisterte Hochrufe auf den deutschen Kaiser und seine Getreuen. Weiter beabsichtigte Ovationen mußten unterbleiben, da die vorgeschrittene Zeit und ein schneidend kalter Wind zum Aufbruch zwangen, der denn auch ohne Schwierigkeiten zur Knorrhütte hinab stattfand, wo die eigentlich auf der Spitze projectirte bengalische Beleuchtung vor sich ging.
Anderen Tages fanden Alle sich froh und munter zu Thal wieder zusammen, um theils weitere Hochgebirgstouren zu unternehmen, theils dem geliebten München zuzueilen.
Zum Schlusse sei hier noch der Spruch mitgetheilt, der mit der Urkunde in der Metallkugel des Kreuzes eingeschlossen worden. Er lautet:
„Möge dieses Kreuz den ihm nun auf des Landes höchster Zinne angewiesenen Platz behaupten bis in ferne Zeiten, möge es, wie schon sein Stifter wünschte: als ein Friedensstern noch den spätesten Geschlechtern herableuchten durch die Stürme der Zeit und sie zu jener brüderlichen Liebe, Eintracht und Treue ermuntern, die allein die Völker stark und glücklich macht!
Und so lange es da oben steht auf der Grenzscheide zwischen zwei mächtigen Reichen, möge es Deutschlands und Oesterreichs Herrscher und Völker immer einig sehen, wie in unseren Tagen, als ein Unterpfand des Friedens!
Aber auch der Einzelne, der da heraufsteigt, Gottes Herrlichkeit zu bewundern, er finde an dieser erhabenen Stätte den Frieden in seinem Herzen und Gefühle des Dankes gegen den Schöpfer all des Wunderbaren! Dem Berge mögen Unglücksfälle immerdar ferne bleiben!
Das walte Gott!“
Die höchsten Bauwerke und Denkmäler der Welt.
Zu einer raschen Wanderung durch die Jahrtausende, durch Völker und Länder laden wir heute unsere Leser ein. In dem „versteinerten Reiche der Töne“, wie man treffend die Baukunst benannte, unter den Ruhmesdenkmälern verschiedenster Geschlechter, unter den Gräbern der Könige und Helden, unter Tempeln, Kirchen und Palästen und unter den Brücken und Viaducten, welche dem rastlosen Verkehre dienen, wollen wir Umschau halten. Nicht ihre Schönheit und Pracht soll uns dabei fesseln; nicht nach ihrer Bestimmung und ihrem Nutzen wollen wir fragen – einzig und allein nach dem Riesenhaften ihrer Höhe werden wir forschen.
Wie alt ist das Bestreben der Sterblichen, in ihrem Thun und Handeln die stolzen Gebilde der ewigen Natur nachzuahmen? Wie alt ist die Sehnsucht, Werke zu schaffen, die den schlanken Wuchs der königlichen Bäume des Waldes übertreffen, oder in ihrem gewaltigen Aufbau den Riesenhäuptern der Berge gleichen? Im grauen Nebel der menschlichen Ursagen verlieren sich die ersten Nachrichten von jenem himmelstürmenden Drange; so erzählt uns die biblische Legende von dem Thurme zu Babel; so singt der Griechen poetische Götterlehre von jenen Titanen, welche Berge auf einander thürmten, um den strahlenden Olymp zu erobern. Und aus grauem Nebel, aus dem Nebel der Geschichte tauchen uns auch die ersten Riesenbauten entgegen, an denen wir heute verweilen wollen, die Pyramiden, deren Namen, von dem altägyptischen pi-rama (Berg) abgeleitet, auf den Wettstreit deutet, welchen schon frühzeitig die schwache Menschenhand mit der Schöpferin Natur unternahm.
Die gewaltigsten unter ihnen, die Cheops- und die Chefren-Pyramide, erbaut um die Jahre 3730 und 3660 v. Chr., waren Jahrtausende hindurch die höchsten Bauten der Welt und zeugen bis heute am heiligen Nilstrande von der menschlichen Größe, aber auch von der menschlichen Vergänglichkeit; denn sonderbarer Weise waren diese Riesenbauten nicht den Göttern geweiht, wie unsere höchsten Kirchen, nicht für die Wohnung der Mächtigen der Erde bestimmt – Gräber der Pharaonen sind diese von uns bewunderten Pyramiden, und so ist es die Spitze eines Grabhügels, von der wir unsere Wanderung unter den höchsten Wundern des menschlichen Lebens und Schaffens eröffnen.
Gleich den gewaltigen Gipfeln der Berge trotzen sie dem Zahne der Zeit und der Hand der Menschen. Große Völker sahen sie kommen und gehen, andere Wunderbauten neben sich entstehen und in Schutt und Trümmer zerfallen. Sie sahen, wie die Symbole der Beständigkeit, die gewaltigen aus einem Felsblock gehauenen Obelisken vom fernen Gebirge auf den Fluthen des Nils in das ägyptische Thal gebracht und später – ihrer Bedeutung zum Hohn – von ihren uralten Standorten nach allen Gegenden der Welt verschleppt wurden. Ob sich auch Alles wandelte zu ihren Füßen, sie behaupteten doch ihren Stand und ihr Recht, wie der, welcher zu ihrer Entstehung Veranlassung gab, wie der allgewaltige Tod.
Doch verlassen wir die düsteren Denkmäler, und wenden wir uns dem Lande zu, in welchem die Wiege des Menschengeschlechtes gestanden haben soll! In dem märchenumwobenen Indien suchen wir vergebens nach Bauten, die sich in ihrer Höhe mit den Pyramiden messen könnten. Andere Völker, andere Sitten! Folgen wir dem Zuge der gläubigen Pilger nach Dschaggarnath, dem Mekka des Brahmanismus, zu dem großen [[w:Ratha Yatra]Wagenfeste]], welches dort alljährlich im Juni oder Juli abgehalten wird! Fratzenhaft ist das Antlitz des Gottes, welchen hier die Gläubigen auf einem fünfundzwanzig Meter hohen Wagen ein Kilometer weit im Sande umherziehen, wild der Fanatismus, mit welchem sich Manche unter die Räder des Wagens werfen, und wirr der gewaltige, mehrere Stunden im Umfang messende Tempel. Wir finden hier das höchste Bauwerk Indiens, die Pagode von Dschaggarnath, die, einer Bischofsmütze nicht unähnlich, aus dem Gewirr von Säulen und überdeckten Hallen emporragt.
Mit ihr rivalisirt, was die Höhe betrifft, ein anderer asiatischer Bau, der noch wohlerhalten über den Ruinen des alten Delhi trauert. Einst war diese Stadt berühmt durch die Pracht ihrer Paläste, deren einer heute noch auf seinen verfallenen Pforten in persischen Schriftzügen die stolze Inschrift trägt: „Giebt es ein Paradies auf Erden, so ist es hier, so ist es hier, so ist es hier!“ Einst stand in Delhi der berühmte „Pfauenthron“ des Großmoguls aus dichtem Golde, mit Diamanten und anderen Edelsteinen bedeckt, umschattet von zwei Pfauen, deren ausgebreitete Schweife aus Edelsteinen hergestellt waren, und geziert mit einem Papagei, der aus einem einzigen Smaragde geschnitten war – ein Thron, dessen Werth man auf hundertfünfzig Millionen Mark berechnete. Im Jahre 1738 zog der persische Nadir-Schah siegreich in Delhi ein; er raubte den Thron und zerstörte die ganze Stadt; nur ein fünfundsiebenzig Meter hoher Thurm überdauerte den Untergang des stolzen Delhi, und noch heute erregt er durch die Kostbarkeit des Materials und die Schönheit seines Baues die allgemeinste Bewunderung. Es ist dies der Kutab Minar, dessen Errichtung man in den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts verlegt und von dem man annimmt, daß er den Thurm einer zerstörten Moschee darstelle.
Doch fremd ist uns diese Welt; wenig verständlich sind uns ihre Sitten und Gebräuche und wenig anziehend ihre Bauten. [663] So wenden wir uns denn den Ländern zu, in denen unsere Cultur und Kunst erwuchsen, den europäischen Gestaden des Mittelländischen Meeres. In Schutt und Staub ruhen hier seit undenklichen Zeiten die höchsten Bauwerke des griechischen Genius, und nur einige Riesenwerke Roms, der Weltbeherrscherin, schauen noch heute von ihrer gewaltigen Höhe herab auf das veränderte Treiben der Menschen zu ihren Füßen.
In der Hauptstadt des neugeborenen Italien ragt noch auf dem Forum Trajanum die Triumphsäule empor, welche vom römischen Senate und Volke im Jahre 113 n. Chr. dem Kaiser Trajan errichtet wurde. Ihr kostbares Postament bildete das Mausoleum für die Asche des Kaisers, und die auf demselben stehende schlanke Säule ist heute noch eins der höchsten Denkmäler der Welt. Die ewige Stadt birgt außerdem in ihrem Häusermeer einen anderen hohen Kuppelbau, der stolz den Stürmen von achtzehn Jahrhunderten trotzte, das Pantheon, den allen Göttern geweihten Tempel, ein wahres Symbol der römischen Weltherrschaft.
Doch der heidnische Tempel kann sich kaum messen mit der schwindelnden Höhe der größten Kirchen, welche das Christenthum seinem Gotte zu Ehren baute. Weit über die Kuppel des Pantheon ragt das Kreuz der berühmten Peters-Kirche zu Rom, eines Bauwerkes, welches der Christenheit über 200 Millionen Mark kostete und an welches sich äußerlich die Entstehung des Protestantismus knüpfte, und höher noch als dieses Meisterwerk der Baukunst steht das Wahrzeichen des einigen Deutschlands da, der Dom zu Köln, der höchste und stolzeste Bau aller Länder und aller Zeiten.
Zu weit würde es uns führen, wollten wir hier die Gründungsgeschichten aller der Kirchen erzählen, welche durch die Höhe ihrer Thürme berühmt wurden. Deutschland ist besonders reich an solchen Bauten, darüber belehrt uns ein Blick auf das anseitige Bild, wo unter den höchsten Thurmspitzen die deutschen am zahlreichsten vertreten sind. Nur auf die weniger hohen, aber durch ihre schiefe Bau-Art sich auszeichnenden Thürme zu Pisa und Bologna möchten wir noch die Aufmerksamkeit der Leser lenken. Il Campanile, der Glockenthurm zu Pisa, ist weit und breit durch seine sieben musikalisch gestimmten Glocken bekannt und verdient auch in der Geschichte der Wissenschaften einen Platz; denn von ihm aus machte Galilei die wichtigen Versuche, auf welchen er seine unsterbliche Mechanik der Fallgesetze begründete. Der 83 Meter hohe Torre Garisenda zu Bologna wurde ebenso wie der Thurm zu Pisa und der zweite schiefe Thurm zu Bologna, Torre Asinelli, im Anfange des zwölften Jahrhunderts erbaut, und Dante hat ihn einst besungen, indem er ihn mit dem sich bückenden Riesen Antäus verglich, dem die Berührung mit der Erde neue Kräfte verleiht.
Und von den Werken des Glaubens, von den der Gottheit geweihten Kirchen, deren Glocken Ruhe und Frieden der Menschheit verkünden sollen, steigen wir wiederum tiefer hinab unter Säulen und Triumphbögen, welche dem weltlichen Ruhme dienen und den Glanz weltlicher Thaten späteren Geschlechtern erhalten. Viele von ihnen sind Kinder längst vergangener Jahre, und ihre Entstehung lebt noch frisch in unserer Erinnerung. Große geschichtliche Umwälzungen knüpfen sich an ihre Namen; gewaltige Thaten des Schwertes sind auf ihren Sockeln verzeichnet, und höher schlagen unsere Herzen bei ihrem Anblick; denn sie sind oft die kunstreiche Verkörperung lange erstrebter und endlich erreichter Ideale der Völker und der Menschheit.
Wer von uns kennt nicht das Hermanns-Denkmal im Teutoburger Walde, das große Kunstwerk Ernst von Bandel’s (vergl. Jahrgang 1875, Nr. 38), das von einer kupfernen Riesengestalt gekrönt wird, deren Höhe bis zum Helmschmuck 17,3 Meter, bis zur rechten erhobenen Faust 19 und bis zur Spitze des Schwertes 26 Meter beträgt? In wessen Erinnerung lebt nicht der 16. August 1875, da von diesem Werke in Gegenwart des deutschen Kaisers und des hochaufjauchzenden Volkes die letzte Hülle fiel? Wer von uns kennt nicht das seiner Vollendung entgegengehende, der Einigung Deutschlands geweihte Nationaldenkmal (vergl. Jahrgang 1874, Nr. 33), welches von dem Meister Johannes Schilling entworfen und, die „Wacht am Rhein“ darstellend, auf den Höhen des Niederwaldes binnen Kurzem aufgestellt werden wird? Wer kennt nicht endlich das Siegesdenkmal zu Berlin, jene meisterhaft von Strack gebaute Säule, von deren Spitze die Drake’sche goldene Siegesgöttin auf die junge Kaiserstadt hinabschaut, dieses Denkmal, welches an Höhe das berühmte Trajansdenkmal und die wieder aufgerichtete wälsche Vendômesäule bedeutend überragt und wohl als die höchste Siegessäule der Welt von dem Ruhme des großartigsten Sieges alter Zeiten berichtet?
Alle diese Denkmäler erzählen nicht wie die dem Corsen zur Ehre errichtete Säule in Paris von Völkerknechtung und Rechtsverletzung; nein, ihr Erz verherrlicht nur die Einigung und Befreiung einer friedliebenden Nation.
Aber auch Paris kann mit Stolz auf sein hohes Denkmal auf dem Bastilleplatz blicken, auf die Julisäule, welche an die Zerstörung der bourbonischen Zwingburg erinnert und unter welcher die irdischen Ueberreste vieler in dem Julikampfe 1830 für politische Freiheit gefallener Bürger rühen.
Von dem kunstliebenden München winkt uns noch ein gewaltiges Denkmal baierischen Heimathstolzes entgegen: die Riesenstatue der Bavaria, vor der Ruhmeshalle auf der Theresien-Wiese aufgestellt. Auf einem 9 Meter hohen Marmorsockel steht die 16 Meter hohe Kolossalstatue, in der erhobenen Linken den Lorbeerkranz, die Rechte am Schwerte, neben ihr der baierische Löwe; 1284½ Centner wiegend, wurde dieser Koloß nach dem Modelle Ludwig von Schwanthaler’s von dem trefflichen Meister Ferdinand von Miller gegossen. Das Metall zu diesem größten Erzgußwerk der Welt stammt von den türkischen Kanonen her, die nach der Schlacht von Navarin aus dem Meer gehoben wurden. Man kann in der hohlen Statue auf eisernen Treppen bis in den Kopf hinaufsteigen, in welchem auf 2 Sophas 6 Personen bequem Platz finden.
Fürstlicher Prachtliebe verdankt Deutschland noch eine andere ähnliche Schöpfung. Auf dem Octogon des Lustschlosses Wilhelmshöhe bei Kassel steht eine Pyramide von starken Quadern, und aus ihrer Spitze lehnt auf seiner Keule die 10 Meter hohe, aus getriebenem Kupfer gearbeitete Nachbildung des Farnesischen Hercules. Hier kann man auf Treppen und Leitern bis in die Keule steigen, und diese Keule dürfte die gewaltigste der Welt sein, da in ihr 8 bis 10 Personen Platz haben. Otto Friedrich Kupfer heißt der Kasseler Kupferschmied, welcher diesen Hercules verfertigte. Der „große Christoph“ – so taufte das Volk den griechischen Götterhelden – wurde im Jahre 1717 aufgestellt.
In anderen europäischen Ländern wetteifern um den Preis der höchsten Höhe die dem russischen Kaiser Alexander dem Ersten vor dem Winterpalais in Petersburg errichtete Säule und die Feuersäule in London. Letztere erhebt sich an der Stelle, wo im Jahre 1666 der „große Brand“ von London entstand, und sie soll dessen Andenken verewigen. Meister C. Wren hat in den Jahren 1671 bis 1677 dieses Denkmal errichtet; es stellt eine dorische Säule dar, auf deren Gipfel eine vergoldete Flammenkugel angebracht ist. Einst befand sich auf dem Sockel der Säule eine Inschrift, welche die Schuld von der Entstehung der Feuerbrunst den Katholiken zuschob. Aufgeklärtere Zeiten haben dieselbe entfernen lassen.
Das höchste aller Denkmäler aber soll in nächster Zeit in New-York errichtet werden; es ist einer Göttin geweiht, der wir Alle freudig huldigen und deren ewige Herrschaft wir herbeiwünschen – der Göttin der Freiheit.
Außer den eigentlichen Denkmälern haben noch die Völker der Neuzeit, hier und dort, nach römischer Art Triumphbögen zur Verherrlichung ihrer Thaten errichtet, von denen der höchste der Arc de triomphe de l’Etoile in Paris ist. Schon Napoleon der Erste plante seine Errichtung, aber erst unter Ludwig Philipp, der zu seinem Nachtheile mit dem Ruhme der napoleonischen Epoche kokettirte, wurde das Werk ausgeführt. Ein bedeutender Kenner der Baukunst, Wilhelm Lübke, sagt über diesen Bau: „Es ist eine schwerfällige, ungegliederte Masse, klotzartig aufragend, ohne Beziehung zum Verkehr des Lebens, da das Motiv des Thors nur als Vorwand benutzt ist, um auf großen Mauerflächen die Gloire des Kaiserreichs ausbreiten zu können.“
Diesem Triumphbogen der Seinestadt stellt Berlin sein nach dem Vorbilde der Propyläen zu Athen erbautes Brandenburger Thor entgegen. Der treffliche, durch Langhans in den Jahren 1789 bis 1793 aufgeführte Bau wird von einer Quadriga nach Schadow’s Modell gekrönt. Merkwürdig waren bekanntlich die Geschicke dieses Viergespanns mit der Siegesgöttin: als die Franzosen in Berlin eingerückt waren, raubten sie 1807 das Kunstwerk und schleppten es nach Paris, um es dort auf ihrem geplanten Arc
[664][665] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [666] de triomphe aufzustellen. Nach dem Siege der Alliirten wurde jedoch die Quadriga 1817 nach Berlin zurückgebracht und auf ihrem ursprünglichen Platze wieder aufgestellt. Damals wurde auch dem Lorbeerkranze der Göttin das eiserne Kreuz hinzugefügt.
Aber auch der Bürgerstolz versuchte sich in der Kunst des Hochbauens, und so wurden die Städte mit hohen Rathhäusern geschmückt, unter denen neben dem Brüsseler sich das neue Berliner Rathhaus durch seine Höhe auszeichnet; es wurde bekanntlich nach Plänen des Bauraths Wasemann in den Jahren 1860 bis 1870 erbaut, und sein Thurm mißt 84 Meter, hat aber auf seinem Dache noch einen stumpfen Aufsatz, der von einer Fahnenstange gekrönt wird, deren Spitze 95 Meter über dem Straßenpflaster liegt.
Mit der Erwähnung der Rathhäuser haben wir bereits das Gebiet derjenigen Bauten berührt, welche nicht ausschließlich idealen, sondern auch praktischen Zwecken zu dienen haben.
In dem Kampfe um’s Dasein scheute der Mensch keineswegs vor der schwindelnden Höhe zurück und wußte Leuchtthürme, Brücken und Viaducte zu bauen, die selbst mit den Kirchthürmen einen Höhenvergleich bestehen können. Das alte Rom zeichnete sich vor Allem auf diesem Gebiete durch seine großartigen Wasserleitungen aus, und bis heute erregt der ziemlich gut erhaltene Aquäduct Trajan’s in Segovia allgemeine Bewunderung. Aus Granitquadern erbaut, überspannt diese Wasserleitung auf 159 Doppelbögen die spanische Stadt in einer Höhe von über 30 Meter und erfüllt noch heute ihren Zweck.
Kühner noch war freilich der Aufbau des vom Ostgothenkönig Theodorich um das Jahr 500 n. Chr. bei Spoleto errichteten Aquäducts, dessen mittlere Pfeiler, in dem Waldstrome Mareggia stehend, über 200 Meter Höhe erreichten.
Doch wir brauchen nicht in’s Ausland zu gehen, um derartige Wunder zu schauen. Auf der Sächsisch-Baierischen-Staatsbahn bei Netzschkau, zwischen Reichenbach und Plauen, finden wir in romantischer Gegend die großartige Ueberbrückung des Göltzschthals, die bei 579 Meter Länge eine Höhe von 87 Meter aufweist. Das in vier Etagen aus Granit, Sandstein und Mauerziegeln aufgeführte Werk ist unter der Leitung des Oberingenieurs Hauptmann Wilke in den Jahren 1845 bis 1851 entstanden und kostet gegen 7 Millionen Mark.
Schließlich müssen noch zwei Brücken erwähnt werden, die als die höchsten der Welt gelten: die aus gewaltigen eisernen Röhren, durch welche Eisenbahnzüge dahinbrausen, bestehende Britanniabrücke über die Menaistraße bei Bangor – ein Riesenwerk, weiches am 5. März 1849 Robert Stephenson, der Sohn des berühmten George Stephenson, vollendete, und die East-River-Brücke in New-York, welche die „Gartenlaube“ erst vor Kurzem ihren Lesern in Bild und Wort vorführte (vergl. Jahrgang 1881, Nr. 50)[WS 1].
In der mächtig emporstrebenden „Neuen Welt“ haben wir also unsere Wanderung beschlossen, die wir an den altägyptischen Pyramiden begannen. Viel Bewundernswerthes haben wir dabei geschaut, und doch bilden alle diese hohen Bauten nur einen geringen Bruchtheil jener Wunder, welche in Tausenden von Jahren menschlicher Genius und menschlicher Fleiß auf Erden zu Stande brachten.
Garibaldi.
Der düstere Trauerpomp, welcher im Juni dieses Jahres (1882) unter Sturmgetose und Wogengedonner den Felsensteig von Caprera herabkam, ist vorübergezogen und mit dem übrigen Apparat desselben auch der überreich dabei entfaltete Redenbombast beiseite gethan, zerschlissen und verschollen.
Der Mann im rothen Hemde, schon bei Lebzeiten in Volkskreisen zu einer mythischen Figur geworden, ruht nun aus von seinen Heldengängen, wie von seinen Irrfahrten, und genießt jenes Friedens, den nur der Tod gibt.
Möchte doch die Majestät dieses einsamen Heroengrabes auf dem kleinen Eiland im Mittelmeer geachtet werden! Möchte doch keine verstandlose Pietät den Todten seiner Granitgruft entreißen, um das Denkmal, welches in Rom oder sonstwo seine Ueberreste decken soll, zur momentanen Neugierstillung müssiger Gaffer zu machen, wie sie jetzo hordenweise alle Wege und Stege unsicher machen in Europa. Napoleons Grab unter den Weiden von Longwood war von einem vollen Hauch tragischer Poesie umwittert. Seine Gruft bei den Invaliden in Paris ist nichts als ein Wachsfigurenkabinett in Marmor. Laßt den Todten von Caprera ruhen, wo er selber ruhen gewollt! Verschont seine Ueberreste mit eurer Spektakelei! Ihr habt ja der Fahnen und Fackeln, der Kränze und Phrasen genug und übergenug aufgewendet. Laßt den aufrichtigen Schmerz im Stillen trauern, aber heißt die erkünstelte Ueberschwänglichkeit schweigen und gebt der Geschichte das Wort!
Denn diese tritt jetzt in ihr Recht.
Drei Männer sind es, welche das „Regno d’Italia“ geschaffen haben: Mazzini, Garibaldi, Cavour. Mazzini war das Herz, Cavour der Kopf, Garibaldi der Arm der italischen Einheitsbewegung. Mazzini hat die Saat ausgestreut, Garibaldi die Getreidemahd vollzogen, Cavour die Garben eingebracht. Ohne die beiden Idealpolitiker Mazzini und Garibaldi – wo wäre Cavour mit all seiner Realpolitik geblieben? Auf seinem piemontesischen Ministersesselchen. Gerade wie Bismarck mit all seiner Realpolitik auf dem preußischen Ministersessel oder gar auf dem Sorgenstuhl eines mäßig begüterten märkischen Junkers sitzen geblieben wäre, so ihm nicht die Propheten und Märtyrer der deutschen Idealpolitik von den Tagen Walthers von der Vogelweide, Fischarts, Logau’s, Klopstocks, Schillers, Körners und Arndts herab die Pfade gewiesen und die Wege gebahnt gehabt hätten. Dem Donner der That rollt ein lauter Widerhall nach, ja wohl – aber ist es nicht der Blitz des Gedankens, der ihm voranleuchtet? Das ist eine Wahrheit, so wohlfeil wie Brombeeren. Aber in dieser Zeit schamloser Verlogenheit darf man wohl auch solche Brombeeren-Wahrheiten scharf betonen, und die in Rede stehende sollte, scheint mir, dermalen namentlich auch unter uns Deutschen beherzigt werden. Sind doch seit 1870 in Deutschland gar viele enge Gehirne ganz und gar von der Vorstellung erfüllt, alles, was nicht sogleich prakticirt, verwerthet, in Bargeld umgesetzt, von heute auf morgen nutzbar gemacht werden könne, das sei nicht „opportun“ oder tauge eigentlich kurzweg gar nichts. In den Tagen unserer großen Denker und Lehrer waren freilich die jetzo modischen Stichwörter „opportun“ und „realpolitisch“, allwomit man alles schlichten und machen zu können wähnt, noch nicht erfunden. Auch ein drittes, heutzutage rasselndes Modewort, das Wort „Freidenker“, haben, gelegentlich bemerkt, die Hochmeister der Ritterschaft vom deutschen Geiste nicht knäbisch-renommistisch herausgehängt, wie neuestens Leute thun, welchen die Bezeichnung „Nichtsdenker“ zumeist besser anstände.
Will man dem Manne, von welchem hier nicht etwa eine Lebensbeschreibung gegeben werden soll, sondern nur eine Charakteristik mit besonderer Berücksichtigung der zwei Glanzperioden seiner Laufbahn, 1849 und 1860, gerecht werden, so muß man sich auf den Standpunkt stellen, von welchem aus er sah, fühlte, dachte, sprach und handelte – also auf den Standpunkt eines Idealisten und eines italischen Patrioten, dessen Seele vom Sonnenfeuer des Südens großgenährt worden war.
Seinem Namen und seiner körperlichen Erscheinung zufolge von germanischer Abstammung, ist dieser blonde Ligurier dennoch in all seinem Fühlen, Denken und Thun ein Romane jeder Zoll gewesen,[1] also kein Mann vor-, um- und rücksichtiger Erwägung, sondern ein Mensch augenblicklicher Impulse, kein kalter Rechner, sondern ein kühner Drauflosgänger, weit mehr den Eingebungen der Phantasie als den Bedenken des Verstandes folgend und dann doch auch wieder einer guten Dosis echtitalischer Schlauheit nicht ermangelnd. Diese Eigenschaft durfte ihm ja schon als dem Fanatiker, der er gewesen, nicht fehlen; denn ein Fanatiker war er, aber in [667] des Wortes bestem und höchstem Sinne. Er glühte ja mit allen Sinnen für sein „Fanum“, für das Heiligthum der Einheit und Freiheit Italiens. Aus dieser Glut entband sich alle seine Liebe und all sein Haß. Er war ein Enthusiast, ein Phantast, wenn man will. Aber kein in’s Blau schwärmender, sondern vielmehr ein mit unermüdlicher Zähigkeit und hellem Opfermuth auf ein festes Ziel gerichteter. Italien war der Traum seiner Nächte, wie der Gedanke seiner Tage. Wenn er sich in seiner späteren Zeit mitunter schwatzhaft in dem Nebelheim herumtrieb oder vielmehr herumtreiben ließ, allwo die „Universalrepublik“, der „Weltmenschheitsbund“, die „Vereinigten Staaten von Europa, Asien, Afrika, Amerika und Australien“ oder dergleichen grellbunte Fabelvögel mehr umherflattern, so war das eben eine Altersschwäche. In den Tagen seiner Kraft und seines Könnens war er ein Patriot, der allzeit und überall Italien suchte. Dieses Ziel zu sehen und zu finden, dazu reichten seine Gaben aus. Den vielverschlungenen und bösverknoteten Fäden der europäischen Politik geduldig nachzuspüren, um schließlich eine richtige Lösung oder Neuverknüpfung zu finden, das war nicht seine Sache. Er ist all sein Lebtag für das Zerhauen der Knoten gewesen. Daß es aber solche Knotenzerhauer doch auch geben müsse in dieser unserer knotenvollen Welt, werden selbst Bekenner des Weder-Fisch-Noch Fleisch-Liberalismus nicht unbedingt bestreiten wollen.
Im Vorstehenden ist darauf angespielt worden, daß Garibaldi mitunter, und zwar besonders in seinen älteren Tagen, fatalen Einflüssen zugänglich gewesen und das Opfer einer beklagenswerthen Lenksamkeit geworden sei. Jedermann weiß, daß zweideutige oder vielmehr unzweideutige Macher und Streber die Phantasie, die Begeisterung, die Gutmüthigkeit des Mannes irreleiteten und mißbrauchten, um ihn das machen zu lassen, was man, wenn man wahr sein will, nicht anders nennen kann als dumme Streiche. Wie verträgt sich nun aber diese Bestimmbarkeit damit, daß man, wie oben schon gethan worden, den Irrgänger von Aspromonte füglich und schicklich doch mit dem alten Horaz einen „tenacem propositi virum“ nennen darf? Gerade so, wie sich der Widerspruch mit dem Widerspruch in jedem Menschen verträgt. Wo war, wo ist, wo wird einer sein, der von sich mit Recht rühmen dürfte, daß er niemals „zwei Seelen“ in seiner Brust wohnen gefühlt hätte? Wenigstens bedeutende Menschen werden dieses häufig genug wiederkehrende Gefühl der Zweiseeligkeit nicht ableugnen können, sondern allenfalls nur ganz gewöhnliche Leute, Famuli Wagners Söhne u. Komp.
So konnte es kommen, daß der König Viktor Emanuel, halb im Scherz, halb im Zorn, den großen Freischarenführer seinen „lieben Büffelschädel“ nennen durfte, um das halsstarrige Drauf- und Durchfahren desselben zu bezeichnen, während zur gleichen Zeit Gesellen der vorhin erwähnten Sorte dem guten „Büffelschädel“ den Leitstrick durch die Nase zogen. An diesem Leitstrick ist er auch im Jahre 1870 auf den Schauplatz seines letzten, in mehr oder weniger großem Stil unternommenen Abenteuers gezogen worden, welches so kläglich verlief und mit dem undankbaren Fußtritt endigte, den die französische Nationalversammlung am 13. Februar von 1871 dem alten Helden gab, welcher zu spät erkannt hatte, daß es zweierlei wäre, gegen neapolitanische oder aber gegen deutsche Soldaten zu Felde zu ziehen. Deutsche von gesundem und kräftigem Nationalgefühl werden Mühe haben, dem Andenken Garibaldi’s die Don-Quijoterie von 1870 zu verzeihen. Aber trotzdem muß man anerkennen, daß dieser Narrenstreich des Mannes, was seine Person anging, so ehrlich und selbstlos gemeint war wie irgendeiner der vom Helden des Cervantes gethanen Narrenstreiche. Und wenn weiter uns kaltblütigen Nordländern das Theatralische, Opernhafte, um nicht zu sagen Seiltänzerische der Ausstaffirung und des Auftretens Garibaldi’s gar störsam vorkommen muß, so sollten wir billig bedenken, daß Südländer derartige Aeußerlichkeiten subjectiv und objektiv ganz anders ansehen und werthen als wir, die wir unter dem ewiggrauen Himmel unseres „gemäßigten“ Klima’s uns nur mit Mühe ein bißchen Farben- und Formensinn zu bewahren vermögen.
Giuseppe Garibaldi ist in den Anschauungen und Strebungen des italischen Carbonarismus aufgewachsen, welcher auf die Geschicke Italiens von so bedeutendem Einfluß gewesen. Er hat diese Anschauungen bis zuletzt festgehalten und demnach war er in innerster Seele Republikaner und Pfaffenfeind.
Stubengelehrte, welche sich, allen Lehren der Geschichte zum Trotz, die Entwickelung von Völkern und Staaten nur auf bureaukratischem, höchstens auf regelrecht-parlamentarischem Wege vorzustellen vermögen, haben über den Carbonarismus bekanntlich sehr abfällig geurtheilt – um so abfälliger, je weniger sie ihn kannten. Nun ist es ja wahr, daß der Carbonarismus viel Komödiantisches, Läppisches, Thörichtes, sogar entschieden Verwerfliches an sich hatte; aber nicht minder wahr ist es auch, daß er und nur er es gewesen, welcher das nach 1815 jeder Art von geistlicher und weltlicher Tyrannei unterworfene, zerrissene, durch heimische und fremde Zwingherrschaft niedergequetschte italische Volk wieder aufzurichten versuchte und aufzurichten wußte. Er vollbrachte das dadurch, daß er in dem Nationalcharakter angemessenen Formen den Kultus des Vaterlandes pflegte, den Glauben an das Ideal „Italien“ weckte und verbreitete und die gesammte gebildete Jugend zu dem Gedanken und Vorsatz erzog, für dieses Ideal Gut und Blut hinzugeben. Die Männer der ruhigen Bildung und friedlichen Entwickelung, die Balbo, Gioberti, D’Azeglio und ihre Gesinnungsgenossen, sie hätten niemals ein konstitutionelles Piemont, geschweige ein einheitliches Italien auch nur in Gedanken herzustellen vermocht, wenn ihnen nicht der Prophet des italischen Radikalismus, Giuseppe Mazzini, vorangewandelt wäre, alle empfänglichen Herzen mit dem unlöschlichen Feuer patriotischer Liebe und patriotischen Hasses erfüllend.
Nachdem Garibaldi in der Verbannung gelernt, sein Vaterland doppelt heiß zu lieben – Männer, deren Patriotismus echt, lernen das im Exil immer – und nachdem er sich auf den Meeren und in den Pampas von Südamerika den Ruf eines kühnen Kriegers und geschickten Führers erworben hatte, ist er im großen Sturmjahr 1848 zuerst auf die weltgeschichtliche Bühne getreten. Nicht mit Glück. Der italische Republikanismus hatte auf Garibaldi’s Freischaarenführerschaft Hoffnungen gesetzt, deren Ueberstiegenheit in einem schreienden Mißverhältniß stand zu den Mitteln, über welche der General verfügen konnte. War doch die große Mehrzahl der italischen Patrioten viel zu klug, um nicht zu merken, daß, wie die Sachen lagen, die Idee der Vereinheitlichung ihres Landes nur mittels aufrichtigen Anschlusses an Piemont, d. h. auf monarchischem Wege zu verwirklichen wäre. Uebrigens blieb auch das vorerst noch ein frommer Wunsch; denn der alte Radezky zeigte den Italienern den kriegerischen Meister in einer Weise, welche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Der Sieger von Custozza – 1848, wie dann wieder 1866, ein Triumphfeld der Waffen Oesterreichs – ließ schließlich durch den General D’Aspre die garibaldische Schaar in die Schweiz hinüberjagen.
Freilich, während in Oberitalien Radetzky die schwarz-gelbe Fahne mit dem habsburgischen Doppelaar auf den Dom von Mailand zurücktrug und in Unteritalien die bourbonische Pestilenz wieder in ihrer ganzen Grausigkeit grassirte, stieg der Stern des Republikanismus in Mittelitalien verheißungsvoll empor. Daß es nur ein Nebelstern, sollte bald offenbar werden. Die ephemere römische Republik vermochte nicht einmal mit der ephemeren florentinischen zu einem Zusammenschluß zu gelangen. Bald auch drohten vom Norden her die Oestreicher, vom Südosten her die Neapolitaner und in Civitavecchia landeten 30,000 Franzosen, welche der Pseudo-Bonaparte, der die Pseudo-Republik Frankreich in seinen Kaiserschnappsack zu stecken sich anschickte, gesandt hatte, um den entflohenen Papst wieder auf den Stuhl Petri zu setzen und den Kirchenstaat wieder herzustellen – ein echt französisches Stücklein, eine prächtige Illustration der Viktor-Hugo’schen Bombastphrasen von der Völkerbrüderlichkeit und Kosmopolitik der Gallier! Solcher Illustrationen giebt es bekanntlich eine Menge, aber darum hören Schwachköpfe und Ignoranten doch nicht auf, an den bezeichneten Bombast zu glauben.
Die Vertheidigung Roms gegen die völkerbrüderlichen Franzosen macht, zusammen mit der Vertheidigung Venedigs gegen die Oestreicher, bei weitem das Beste und Größte aus, was das republikanische Kredo dazumal, in den Jahren 1848–49, vollbracht hat. Es war bedauerlich, daß nicht Garibaldi den obersten Heerbefehl in dem berannten und belagerten Rom führte, sondern daß Mittelmäßigkeiten wie Avezzana und Roselli den Kommandostab hatten. Wäre Garibaldi Obergeneral gewesen, so würde – [668] hat man behauptet – die Möglichkeit eines glücklichen Ausgangs nicht gefehlt haben. Dem ist nicht so. Eine Möglichkeit, die Waffen der isolirten römischen Republik von 1849 über die ungeheure Uebermacht der Franzosen, Neapolitaner und Oestreicher triumphiren zu machen, war von vornherein ausgeschlossen. Es konnte sich nur darum handeln, die Ehre dieser Waffen aufrecht zu halten bis zum Aeußersten, und daß die von Garibaldi geführte „Legion“ das gethan, steht fest. Wir besitzen hierfür ein Zeugniß, dessen Wahrhaftigkeit nie die leiseste Anzweifelung gestattet hat, das Zeugniß eines Augen- und Ohrenzeugen, welcher zugleich ein in erster Reihe Mithandelnder war. Es ist unser trefflicher, leider vorzeitig hingegangener Gustav von Hoffstetter gemeint, dessen Tüchtigkeit und anspruchslose Liebenswürdigkeit gewiß bei Allen, welche ihn gekannt haben, in bestem Andenken stehen. Dieser deutsche Officier hat den ganzen römischen Kampf von 1849 als einer der Führer desselben mitgemacht und nachmals ebenso schlicht wie genau und anschaulich diese denkwürdige geschichtliche Episode beschrieben („Garibaldi in Rom; Tagebuch aus Italien“, 2. A. 1860).
Um Garibaldi hatte sich die edelste Blüthe italischer Jugend gesammelt. In diesen jungen Männern, welche großentheils den gebildetsten, begütertsten, im besten Sinne vornehmsten Familien entstammten, pulsirten die Feuergedanken, welche Giacomo Leopardi in seinem hochherrlichen Canto „An Italien“ ausgeströmt hatte. Viele dieser jungen Helden haben die Echtheit ihrer Vaterlandsliebe mit ihrem Herzblut besiegelt. Ich wüßte nicht, daß zu irgendeiner Zeit und unter irgendeinem Volke auf dem Altar des Vaterlandes edlere Opfer geblutet hätten als ein Eugenio Manara oder ein Emilio Morosini. Manara, aus der Fülle aller Glücksgüter und jungen Eheglücks nach Rom geeilt, um für Italien zu kämpfen, einer der tapfersten sowohl, wie auch begabtesten und militärisch gebildetsten Führer, wurde, kaum fünfundzwanzigjährig, am 30. Juni bei der Villa Spada von einer Franzosenkugel tödtlich getroffen. Seine letzten Athemzüge verwandte er darauf, seinen schmerzerfüllten Waffengefährten zu sagen: „Tröstet meine Frau und bringt ihr diesen meinen letzten Gruß: sie soll unsere Kinder in der Liebe zum unglücklichen Vaterland erziehen und, sobald sie stark genug sind, ihnen die Waffen zur Befreiung Italiens in die Hände geben.“
An demselben Junitag von 1849 fiel auch Morosini, ein Apoll an Jugendschönheit, noch nicht zwanzig Jahre alt. Als er ein Jahr zuvor in Oberitalien als Freiwilliger zur italischen Fahne eilen gewollt, hatten seine Schwestern die Mutter flehentlich gebeten, den zärtlich geliebten Bruder nicht ziehen zu lassen. Aber die edle Italerin: „Ich gebe dem Vaterlande das Beste, was ich habe, meinen einzigen heißgeliebten Sohn.“ Als Hoffstetter später die kummervolle Mutter aufsuchte, sagte sie ihm, sie habe nur den Trost, zu wissen, daß ihr Emilio heldisch gestritten und gestorben. Eine Nation, fürwahr, welche solcher Mütter und solcher Söhne sich rühmen darf, braucht nie zu verzweifeln. Wenn aber Garibaldi, wie durch unzählige Beispiele erwiesen ist, gerade auf die reinsten und selbstlosesten unter seinen Landsleuten, auf so herrliche Menschen wie Manara und Morosini einen magisch-mächtigen Einfluß übte, so liegt hierin, sollt’ ich meinen, der unwidersprechlichste Beweis, daß er ein großer Mann war. Allzeit und überall ist nur wenigen Auserwählten eine solche elementare Macht über Menschen gegeben. Dem italischen Vorfechter kam hierbei noch etwas zu statten: das glückliche Naturell seiner Landsleute. Wo der Italiener liebt, ist seine Liebe voll; wo er hasst, ist sein Haß ganz. Das leidige deutsche Laster der Nergelei kennt er nicht. Die süßsaure Anerkennung, das halbe Lob, der flaue Tadel, diese schlechten deutschen Gepflogenheiten sind nicht seine Sache. Dem Neide der Ohnmacht und der Mittelmäßigkeit werden seine Frechheiten jenseits der Alpen nicht so leicht nachgesehen wie diesseits. Es ist charakteristisch, daß italische Zeitungen, welche notorisch im Sold und Dienst des Vatikans stehen, das Ehrliche wie das Schicksalsmächtige in der Persönlichkeit Garibaldi’s anerkannt haben. Nur deutsche und französische Pfaffenblätter haben in gemeiner Weise ihn verleumdet und verlästert.
Unser Gewährsmann sah den General zum erstenmal am 6. Mai von 1849. „Ruhig und fest saß er zu Pferde, als wäre er darauf geboren, ein etwas kleiner Mann mit sonnverbranntem Gesicht und vollständig antiken Zügen. Unter einem spitzen Hut mit schmaler Krämpe und schwarzer Straußfeder drängte sich das braune Haar hervor. Der röthliche Bart bedeckte zur Hälfte das Gesicht. Ueber der rothen Bluse flatterte der kurze, weiße amerikanische Mantel.“ Zuerst staunte der gute Hoffstetter nicht wenig über diesen „sonderbaren Aufzug“. Aber der Gesammteindruck, welchen er von der Erscheinung des Generals empfing, war doch der, daß er einen Mann vor sich habe, „welcher zum Befehlen geboren sei“.
Wie richtig dieser Eindruck gewesen, hatte unser Zeuge bald zu erhärten Gelegenheit, als er Garibaldi’s Streifzüge gegen die Soldaten des Rè Bomba in der Umgebung von Rom mitmachte und mitfechtend beobachtete, wie der General die Gefechte bei Velletri, Frosinone, Palestrina und Anagni vorbereitete, anordnete und durchführte, „mitten im dichtesten Feuer, der empfangenen Wunden nicht achtend, kaltblütig im Führen, feurig im Fechten“.
Mit der Gefahr in Rom wuchs auch das militärische Talent und die Thatkraft Garibaldi’s. Er vornehmlich war es, welcher das Eindringen der belagernden und bombardirenden Franzosen in die Siebenhügelstadt bis zur letzten Möglichkeit verhinderte. Er hat auch nicht kapitulirt, als die römische Republik dem pseudobonaparte’schen Banditenstreich erlag. Er faßte den kühnen Entschluß, mit den Trümmern seiner Legion quer durch Italien sich zu schlagen, Franzosen, Neapolitanern und Oestreichern zum Trotz, um, wo möglich, dem belagerten Venedig eine Verstärkung zuzuführen. Er machte seinen Waffengefährten kein Blendwerk vor, als er sie einlud, das verzweifelte Abenteuer zu wagen. Er sagte schlichtwahr zu ihnen: „Wer mir folgen will, dem biete ich Mühsäligkeiten, Hunger, Durst und alle Gefahren des Krieges.“ Etliche Tausende folgten ihm, und er rettete sie auf den Felsen von San Marino.
Das war freilich nicht „opportunistisch“ gesprochen und gehandelt, dafür aber heldisch, und am Ende aller Enden machen doch nicht die Opportunisten, sondern nur die Helden Geschichte.
„Klein-Frankreich in New-York“.
Eine der lebensvollsten, der figuren- und farbenreichsten Straßen des großen Völkerpanoramas von New-York-City ist Bleaker-Street. Nirgendwo anders hört man so viel Sprachen und Mundarten, erblickt man so viel verschiedene Rassen und Nationalitäten wie dort: Farbige in allen Schattirungein, vom kohlschwarzen Nigger bis zum hellen Octoronen, südamerikanische Mischlinge mannigfacher Art, Chinesen, Japanesen, Indianer, Israeliten und Kaukasier; Deutsche, Franzosen, Italiener und alle anderen Europäer.
Ebenso vielgestaltig ist das geschäftliche Treiben dieser kleinen Welt; es sind hier alle Gewerbe vertreten, erlaubte und unerlaubte: neben echten Aerzten prakticiren Clairvoyants und Quacksalber, neben legitimen Apothekern Verkäufer von Geheimmitteln. Sogenannte Concerthallen wechseln mit ebenso fraglichen Sommergärten ab; denn zu letzteren zählen sich in New-York auch Locale, die keinen Platz im Freien, keinen Baum oder Strauch bieten. Die Trottoirs von Bleaker-Street sind mit Obst-, Austern-, Kuchen- und Zeitungsständen überfüllt. Hier ist Alles zu haben: Limonade und Leibweh, „root-beer“ (ein schauerliches Lieblingsgetränk der Amerikaner) und Katzenjammer, ein Bild des New-Yorker Volkslebens und eine Tracht Prügel.
Abgesehen von den Wirkungen der Jahreszeiten, verändert sich Bleaker Street nicht merklich. Seine Bewohner, alles „kleine Leute“, die den herben Kampf um’s Dasein führen, gehen im heißen Sommer weder auf’s Land noch reisen sie nach Europa; sie speculiren weder in Grundbesitz noch in Actien, und ihre Ersparnisse legen sie vielfach nicht in Sparbanken und anderen Creditanstalten, sondern in dem altbewährten Strumpf an.
[669] [670] Dabei präsentiren sich hier oft recht stattliche Häuser mit unverkennbar herrschaftlicher Façade; denn vor noch nicht einem halben Jahrhundert gehörte Bleaker-Street zum fashionablen New-York, und in den Räumen, wo jetzt die dicklippige Negerin ihre Wäsche bügelt, führte einst der französische Koch das Küchenscepter; wo heutzutage finster blickende Communards ihren Absynth mischen, empfing die Familie des Patriciers ihre Gäste, und wo der „Wilde der Civilisation“ seine Orgien feiert, drehten sich elegante Paare im Tanz, aber in „abgemessenem Schritte“; denn der steifbeinige Amerikaner ist bei Terpsichoren nicht in die Schule gegangen.
Ein Theil von Bleaker-Street gehört zum „Quartier Français“, auch kurzweg „Quartier“ genannt, das westlich vom Broadway, südlich vom Washington Square und nördlich von Grand Street liegt. Dem viel größeren „Klein-Deutschland“ im Osten der Stadt entspricht das engbegrenzte, fest zusammenhaltende, exclusive „Klein-Frankreich“ im Westen derselben; es ist fast, als hätten die beiden erbfeindlichen Nationen auch in der neuen Welt das Tischtuch zwischen sich zerschnitten, als hätten sie absichtlich durch einen möglichst großen Raum sich von einander getrennt. Nur die Weihe der Kunst wirkt versöhnend; denn der wälsche Straßensänger verschmäht es nicht, auch im germanischen Quartier sein „Formez vos bataillons“, von keinem störenden Instrument begleitet, in die Lüfte zu schmettern und in „Klein-Deutschland“ seinen Obolus zu sammeln, nachdem er die übrigen Felder des Völkerschachbrettes von New-York abgegrast hat.
Sehen wir uns im „Quartier“ um, so erblicken wir allerorts französische Schilder, über den Thüren und an den Fenstern; die Zahl der Restaurants in Erdgeschossen und Hochparterres ist überaus groß, doch sind sie sammt und sonders plebejischer Natur; denn hier wohnt ausnahmslos das französische Proletariat. Abgesehen von den Gewerben, die ausschließlich dem bloßen Lebensunterhalt dienen, sind die herrschenden Industrien des „Quartier“ das Anfertigen von künstlichen Blumen und Blättern, sowie das Färben von Federn, womit ganze Familien sich beschäftigen und wozu die betreffenden Firmen das Material liefern, ferner: Sticken, Repariren von Statuetten, Bildern und anderen Kunstgegenständen – kurz, lauter Geschäfte, die mehr Geschick und Geschmack als körperliche Mühe und Anstrengung bedingen. Ein sehr bedeutendes Contingent dieser Bevölkerung bilden die etwa achttausend kunstgewerblichen Arbeiter, die von den großen New-Yorker Häusern, namentlich von dem berühmten Tiffary, auf bestimmte Zeit, meist auf fünf bis zehn Jahre, gemiethet werden und dann in die Heimath zurückkehren. Die Seelenzahl von „Klein Frankreich“ bleibt immer ungefähr dieselbe und ist im Verhältniß zum deutschen Element nur gering; denn die Franzosen haben weder den Trieb noch die Veranlassung zum Auswandern wie unsere Landsleute. Der neueste Census veranschlagt die seßhafte französische Colonie auf 9910 Personen.
Wir betreten in Bleaker-Street das „Restaurant du Grand Vatel“, nach dem großen Koch Ludwig’s des Vierzehnten benannt, der sich aus Gram darüber, daß ein Fisch nicht zur rechten Zeit für ein Diner seines Königs eintraf, das Leben nahm. Der Boden der Restauration ist mit Sand bestreut, und an den kleinen mit Wachstuch überzogenen Tischen sitzen die Gäste, eifrig debattirend und gesticulirend. Sie sprechen über die ägyptische Frage und schimpfen über Freycinet und Gambetta, über die Schlaffheit der Regierung und über die Faulheit der ganzen Republik. Wie anders war es da zu Zeiten der Commune! Viele der hier Anwesenden haben bei dem Flammenschein der brennenden Seinestadt auf den Barrikaden gefochten, und nicht Wenige wissen zu erzählen, wie es in Neu-Caledonien aussieht. An den Wänden hängen noch jezt, um auch äußerlich das Gepräge des Locals zu zeigen, zerrissene Zettel, die zum Banket und Ball zur elften Jahresfeier der Revolution am 18. März einladen, unter den Auspicien der „Société des Réfugiés de la Commune“. Die guten Communards sind indessen ebenso harmlos wie die deutsch-amerikanischen Socialisten: und man läßt sie ruhig reden und sämmtliche Fürsten Europas mit dem Munde todtschlagen.
Um jedoch einmal die französische Kost zu probiren, wie der besser situirte Proletarier sie genießt, verfügen wir uns in eine Nebengasse und steigen die zum Restaurant führende Freitreppe empor. Das kleine, nur einen einzigen Tisch enthaltende Zimmer, an welchem die vierzehn Stammgäste ihr Diner einzunehmen pflegen, ist von der Küche, aus welcher die Wirthin die Speisen direct hereinbringt, nur durch einen halb offenen Bretterverschlag getrennt, und ein zweiter scheidet das Schlafstübchen vom Departement des Kochlöffels und der Bratpfanne. Die Gerichte sind schmackhaft und vorzüglich zubereitet; die soupe aux croûtons mundet uns über Erwarten, und selbst das zu boeuf braisé aux vignons frisirte Suppenfleisch schmeckt uns, mit einem Worte: es ist Alles delicat und ungemein billig. Auch der St. Julien ist vortrefflich; nur Tischtuch und Geschirr lassen zu wünschen übrig.
Was übrigens die Küche im Allgemeinen anbelangt, so steht in New-York die französische obenan; dann folgt gleich die deutsche, und ganz zuletzt kommt die amerikanische, zu der man nur greift, wenn es gar nicht anders sein kann. Sollte das amerikanische Volk einmal aussterben, so geht es an Verdauungsschwäche zu Grunde, herbeigeführt durch die landesübliche Kochkunst.
Dort am untersten Ende des Tisches sitzt ein alter Bekannter, ein Musikprofessor. Er muß sich’s sauer werden lassen; denn die Unterrichtsstunden werfen ihm nicht viel ab, sobald er aber sein Diner eingenommen hat, seine gloria (schwarzer Kaffee und Cognac) schlürft und seine Cigarette raucht, strahlt sein gelbes, mit einem schwarzen, wohlgepflegten Napoleonbart geziertes Antlitz von glücklichem Behagen, dann sieht er aus, als wäre sein Losungswort das Motto, welches der junge Disraeli auf das Titelblatt seines „Vivian Gray“ schrieb: „Wohlan! Die Welt ist meine Auster, die ich mit dem Degen öffnen will.“ Er hat sich nicht verändert, obwohl Jahre verstrichen sind, seitdem wir ihm zum letzten Male begegneten, und auch das etwas abgetragene und verschossene, doch sauber gehaltene Costüm macht den Eindruck, als habe er es damals sorgfältig eingepackt und erst heute wieder herausgeholt. Mit verklärtem Blick ruht sein Auge auf der halbgeleerten Flasche, um deren Hals er seine Serviette als Zeichen des Eigenthums geschlungen hat.
Vielleicht freut er sich schon im Voraus auf den köstlichen Sonntagsausflug nach dem reizenden Williamsbridge, dem steten Wallfahrtsort der französischen Picknicker. Unwiderstehlich werden sie dahin gezogen durch die malerische Naturschönheit der schattigen Vergnügungsplätze sowie durch den Umstand, daß viele ihrer Landsleute sich am Bronx-River angesiedelt haben. Jeden Sonntag versammeln sich daselbst zahlreiche Familiengruppen mit ihren wohlgefüllten Körben. Nach dem improvisirten Essen giebt sich Jeder dem Zeitvertreib hin, der ihm am liebsten ist: Viele angeln – trotz des Ausspruchs des satirischen Gavarni, daß die Fischleine ein Ding sei, an dessen unterm Ende ein Haken, an dessen oberem ein Dumpfkopf sitze, und trotz der notorischen Fischarmuth des Bronx River freuen sie sich über den Fang eines Thieres, das nicht größer ist als die Klinge eines Federmessers, ebenso, als ob es ein Walfisch wäre. Die Kinder spielen; die Mütter lesen im Schatten eines Baumes den neuesten Roman von Daudet, und das junge Volk rudert im Chor singend um die Wette.
Ist die Zeit für Ausflüge vorüber, so versammeln sich die kleinen Leute des „Quartier“ am Sonntagabend in ihrer goguette in Bleaker-Street, worunter man einen Ort versteht, an welchem die Theilnehmer sich zum Vergnügen treffen, namentlich um zu singen, und dazu hat Jeder das Recht. Die Ausschmückung des Saales ist sehr einfach: das amerikanische und das französische Banner zieren verschlungen den oberen Theil der Plattform, auf welcher der Präsident sitzt, und an den Wänden sind in ornamentalen Buchstaben die Namen der berühmtesten Liederdichter zu lesen, wie Lachambaudie, Pierre Dupont, Gustave Nadaud und des unsterblichen Béranger. Das Piano ist verpönt, damit jedoch der Gesang nicht ohne Begleitung sei, werden durch die Reibung einer leeren Flasche an einer Holzwand Töne hervorgebracht, die denjenigen eines Contrebasses nicht unähnlich sind. An die Liedervorträge reihen sich Recitationen aus Victor Hugo und anderen Dichtern, Taschenspielerkünste und mesmerische Experimente, und während der Zwischenpausen geht der Präsident mit einer richtigen Schnupftabaksdose umher, ein allgemeines Niesen und Beglückwünschen verursachend.
Die reicheren Franzosen wohnen zerstreut in den fashionableren Theilen der City; Viele von ihnen sind es nur noch dem Namen nach und haben sich ganz amerikanisirt. Ihre Familien lebten [671] früher auf den westindischen Inseln, und manche besitzen noch jetzt Zuckerplantagen daselbst. Sie verheirathen sich mit Amerikanern und besuchen auch deren katholische Kirchen, in denen englisch gepredigt wird, wogegen das „Quartier“ seine eigenen Kirchen mit französischem Gottesdienste hat, zwei presbyterische und eine römische, die St. Vincent de Paul, mit der eine Akademie für junge Damen verbunden ist. Die New-Yorker Presse hat zwei französische Zeitungen, den „Courier des Etats-Unis“ und den „Messager Franco-Américain“.
Die Franzosen der City sind ebensolche „Vereinsmeier“ wie ihre deutschen Mitbürger. An verschiedene Gesangvereine reiht sich eine große Anzahl von Gesellschaften der mannigfachsten Art, unter denen wir nur die bekannteste erwähnen wollen, den „Cercle Français de l’Harmonie“ mit seinem alljährlichen vielbesuchten und sehr eleganten Maskenball, wenn dieser auch nicht den Glanz und die Pracht der Maskenbälle erreicht, welche die deutschen Vereine „Arion“ und „Liederkranz“ veranstalten. Eine militärische Organisation ist die „Société Lafayette“.
Auch außer ihrem Lafayette haben die amerikanischen Franzosen ihre historischen Gestalten. Hier seien aus ihrer Reihe nur zwei erwähnt!
Marquis Armand de la Rouerie, in der Geschichte kurzweg als Oberst Armand bekannt, hatte um der berühmten Schauspielerin Mademoiselle Barré willen einen österreichischen Baron im Duell erschlagen und ging aus Reue darüber zu den schweigsamen Trappisten. Späterhin weihte er seine Dienste der jungen amerikanischen Republik und bildete die Armand’sche Legion, ein Cavallerieregiment, das zum großen Theil aus geborenen Pennsylvania-Deutschen bestand. Bei einem gefährlichen nächtlichen Ueberfalle, den er bei Yonkers am Hudson, oberhalb New-Yorks, gegen das britische Lager ausführte, stieß er auf die Hünengestalt des feindlichen Majors, der in solcher Eile aus dem Bette gesprungen war, daß er noch die grünseidene, betroddelte Nachtmütze auf dem Kopfe hatte. Oberst Armand sprengt dicht an ihn heran, ändert aber blitzschnell unter lautem Ausrufe der Ueberraschung die Richtung seines zum Todesstoße erhobenen Degens und trägt auf der Spitze desselben die durchbohrte Nachtmütze triumphirend davon, hinter ihm die wilde Jagd seiner kühnen Reiter. Jener Major war der todtgeglaubte österreichische Baron gewesen, und der Marquis verlor in Folge dieser Begegnung sein finsteres, schweigsames Wesen.
Auf einem längst geschlossenen New-Yorker Kirchhofe steht ferner ein Grabstein mit folgender Inschrift:
de
Pierre de Landais,
Ancien Contre-Amiral
au service
Des États-Unis
Qui disparut
Juin 1818,
âgé 87 ans.“
Pierre stammte aus einer der ältesten, stolzesten und ärmsten Adelsfamilien der Normandie. Er hatte auf der „Ecole de la Marine“ studirt und diente bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahre als Unterlieutenant treu seinem französischen Vaterlande. Da kam unter Ludwig dem Sechszehnten ein früherer Page der Maitresse des Grafen von Vergennes nach Cherbourg und wurde sein Capitain. Entrüstet quittirte der heißblütige Pierre und widmete sich, von Baron Steuben empfohlen, der amerikanischen Republik. Er wurde in der Folge Fregattencapitain mit Admiralsrang und commandirte die „Alliance“ vom Jonas’schen Geschwader. Im September 1779 traf Jonas an der englischen Küste auf zwei britische Kriegsschiffe, die er nach hartnäckigem Kampfe zu seinen Prisen machte. Während des Treffens erschien plötzlich die „Alliance“ und feuerte auf das Schiff des eigenen Vorgesetzten, bis dieses sank. In Folge dessen wurde Pierre de Landais seines Amtes entsetzt, weil man annahm, er habe es gethan, um sich allein die Lorbeeren des Sieges anzueignen, obwohl er selbst es auf das Entschiedenste in Abrede stellte und mehrere Male im Duell mit dem Degen für seine Ehre eintrat.
Vierzig Jahre lang überschüttete er von da an den Congreß mit seinen Ansprüchen auf rückständiges Gehalt und auf Prisengelder; jedes Jahr fuhr er in dem alten Rumpelkasten, der damals die Bundeshauptstadt mit New-York verband, nach Washington und stets kehrte er mit leeren Taschen zurück, um den bitteren Kampf mit der Armuth wieder aufzunehmen. Er wurde zu einer der bekanntesten Straßenfiguren, der kleine, untersetzte Admiral in der verschossenen continentalen Uniform, den sauber gebürsteten Kniehosen, den abgetragenen gelbseidenen Strümpfen und dem kurzen Degen an der Seite. Er lebte in vollkommener Unabhängigkeit nur von seinem geringen Einkommen und wies jedes Geschenk, auch das auf das zartfühlendste dargebotene, zurück. Verschwunden ist er übrigens nicht, wie man aus seiner Grabschrift schließen sollte, diese hat er vielmehr selbst verfaßt, nach dem Vorbilde des greisen Aeschylus, wenn von seiner Tapferkeit auch kein marathonischer Hain, kein „tieflockiger Meder“ erzählt.
Blätter und Blüthen.
Der Sperber. (Mit Abbildung Seite 669.) Der gemeinste unter unseren Raubvögeln, der strolchende Dieb und Wegelagerer der gefiederten Welt ist es, den wir heute unseren Lesern in Bild und Wort vorführen – in der Gallerie unserer Thierbilder ein charakteristisches Pendant zu dem blut- und beutegierigen Heermännchen (vergl. Nr. 22 dieses Jahrgangs). Der kühne und gewandte Sperber hat Europa und den größten Theil Mittelasiens zu seiner Heimath; in den schneebedeckten Fichtenwäldern Skandinaviens und in Griechenlands Cypressenhainen, an des Amurs nebligen Ufern und auf der sonnigen Insel Madeira baut er sein Räubernest, und wenn die singenden Schaaren der Finken und Lerchen im Herbst ihre Wanderungen nach dem Süden unternehmen, dann pflegt er oft ihnen zu folgen bis nach Indien und den Küstenländern von Nordafrika. Waldungen aller Art bilden in der Regel seinen Aufenthaltsort, aber er scheut keineswegs die Nähe der Menschen und schlägt gern dicht neben Dörfern und Städten sein Standquartier auf. Seine wilde Jagd beschränkt er dabei nicht auf Wald und Flur, sondern plündert und mordet auch die kleine gefiederte Welt, die in den Baumgärtchen rauchgeschwärzter Städte von den Menschen gastlich bewirthet wird. So gehört er zu den bekanntesten Raubvögeln, und wer dem Leben und Treiben in der Natur ein regeres Interesse entgegenbringt, der hat ihn oft gesehen. Wir ersparen uns daher eine genauere Beschreibung seines schwärzlich aschgrauen Gefieders, welches an der Unterseite weißlich erscheint und mit rostrothen Wellenlinien geziert ist, und heben nur hervor, daß das Sperberweibchen stärker ist, als das etwa zweiunddreißig Centimeter lange und vierundsechszig Centimeter breite Männchen. Dieser Größenunterschied ist oft so bedeutend, daß man lange Zeit hindurch das Weibchen für eine besondere Art hielt, der man den Namen des großen Sperbers beilegte.
In manchen Gegenden nennt man diesen Raubvogel Finkenhabicht, Schwalben- oder Sperlingsstößer, da er seine Angriffe vorzüglich gegen die kleinen Vögel richtet und nur selten sich an Rebhühnern oder Hasen vergreift.
Wiewohl er im Gegensatz zu anderen Raubvögeln in der Kunst der Verstellung ein großer Meister ist und oft durch veränderten Flug das zur Beute auserlesene Opfer zu täuschen versucht oder sich an dasselbe heranzuschleichen weiß, so giebt er doch, wenn seine Raubgier einmal erregt worden ist, Beweise der blindesten Wuth und kühnsten Verwegenheit. Brehm erzählt in seinem „Thierleben“, daß Sperber selbst im Innern von Häusern oder fahrenden Wagen gefangen wurden: „sie hatten ihre Beute bis dahin so gierig verfolgt, daß sie alles übrige vergaßen. Gefangene Vögel im Bauer vor oder hinter den Fenstern sind vor dem Angriffe des Sperbers ebenso wenig gesichert wie die freilebenden. Der Glasscheiben nicht achtend, stürzt er sich auf die Gebauer, zerbricht, nicht immer ohne Lebensgefahr, in jähem Anpralle das Glas und greift im Zimmer, unbekümmert um die aufschreienden Bewohner, nach dem Vogel.“
Ist ihm der Fang gelungen, so trägt er seine Beute an einen verborgenen Ort, rupft ihr die großen Federn aus und verzehrt sie hierauf in Ruhe. Da er ausschließlich Vögel kröpft, so ist er in der Gefangenschaft sehr schwierig durchzufüttern und verschmäht das gewohnte Raubthierfutter unserer Zoologischen Gärten, das Fleisch des edlen Rosses. So geht er frühzeitig im Käfig zu Grunde, wie O. von Riesenthal treffend bemerkt, als eine getreue Illustration des Sprüchworts „Friß, Vogel, oder stirb!“
Nur die geschicktesten unter dem kleinen Geflügel fürchten nicht den Sperber, und die Rauchschwalben verfolgen ihn sogar mit lautem Geschrei, seine gefährliche Gegenwart den anderen Vögeln verrathend. Aber er hat auch Feinde, die ihm überlegen sind. Schon mit den Krähen muß er oft harten Strauß ausfechten, und die größeren Edelfalken wie auch der Habicht fressen ihn ohne Umstände.
Bei uns stellt ihm auch der Jäger nach, und nur in Mittelasien wird er von vielen Völkern als ein vortrefflicher Baizvogel geachtet. Man füttert die Jungen im Sommer auf und benutzt sie im Herbst zur Jagd. Dabei wählt man nur die kräftigeren Weibchen aus. Im Winter läßt man die abgerichteten Vögel wieder fliegen, weil es sich nicht lohnt, sie den Winter hindurch zu füttern.
Mit den abgerichteten Sperberweibchen werden im Südural, in [672] Persien und Indien Rebhühner, Wachteln, Schnepfen und Tauben gejagt, und außerdem wird mit ihnen im Hochsommer noch ein besonderer Sport getrieben. Wenn nämlich in Persien die Witterung für anstrengende Jagd zu heiß ist, so ist es eines der beliebtesten Sommervergnügen, Sperlinge mit Sperbern zu jagen. Der Sperber fehlt selten seine Beute und schlägt fünfzehn bis zwanzig Sperlinge in einer Stunde. Er verfolgt die Spatzen dabei mit solchem Eifer, daß er selbst in Mauerlöcher eindringt und in denselben oft zu Grunde geht.
Da gegenwärtig bei uns der Vertilgungskrieg gegen den Sperling eröffnet wurde und auch das Interesse für den Sport aller Art in rapidem Wachsen begriffen ist, so wäre vielleicht die Einführung solcher Sperlingsjagden vielen Sportlustigen willkommen. Dann würde unter Umständen auch der Sperber ein sehr gesuchter Vogel werden.
Der Leipziger Buchhandel vor 1848. Einer der interessantesten Abschnitte in der Geschichte des Leipziger Buchhandels ist ohne Frage der Zeitraum von 1830 bis zum Bewegungsjahre 1848. Jene Zeitperiode hat ihm ein ganz eigenartiges Gepräge aufgedrückt. Nachdem durch die endgültige Besiegung Napoleon’s des Ersten das Regierungssystem des Fürsten Metternich in Deutschland und Oesterreich, ja fast in ganz Europa wieder zur absoluten Alleinherrschaft gelangt, war in den dreißiger und vierziger Jahren der Leipziger Buchhandel der hervorragendste Vermittler, durch den die größten Geister der deutschen Nation zu dieser sprachen und für die in den langen Kriegsjahren dargebrachten Opfer von den deutschen Regierungen das Einschlagen einer liberalen Richtung und gleichzeitig die Gewährung einer Verfassung verlangten. In diesen Kämpfen hat der Leipziger Buchhandel als Dolmetsch des aufgeklärten, liberalen Deutschlands sich unleugbare Verdienste erworben.
Dabei ist es eigenthümlich, daß jene Bewegung und die massenhaft von gewissen Regierungen erlassenen Bücher- und Zeitschriftenverbote die materielle Lage des Leipziger Buchhandels durchaus nicht schädigten, sondern vielmehr für viele Firmen die directe Veranlassung zu einem raschen, gedeihlichen Aufschwunge wurden. Was speciell die Bücher- und Zeitschriftenverbote betrifft, so befand diesen gegenüber der damalige Leipziger Buchhandel sich im vollen Kriegszustande, der also naturgemäß für viele Verlagsbuchhandlungen eine ganze Reihe Kriegslisten im Gefolge hatte. Diese galten vor allem für den Verkehr mit dem damals gegen jeden freiheitlichen Hauch noch hermetisch verschlossenen Oesterreich. Ueberhaupt war in jener Zeit dem Fürsten Metternich und seinen Regierungsleuten ganz Leipzig eine Stadt des ketzerischen und politisch-demagogischen Gräuels; denn hier hatte sich an der Seite der für die religiöse und politische Befreiung Deutschlands thätigen Verlagsbuchhandlungen eine Reihe Schriftsteller und Publicisten niedergelassen, deren Namen kaum in Oesterreich genannt werden durften, geschweige denn ihre Werke und Schriften.
Von jenen Männern, die damals in Leipzig wirkten, nennen wir hier nur die Führer der deutsch-katholischen Bewegung Ronge und Czerski, die Schriftsteller E. M. Oettinger, Redacteur des „Charivari“, Herloßsohn, Redacteur des „Komet“, und Kuranda, Redacteur der „Grenzboten“. Wiewohl alle diese Namen und noch manche andere in Oesterreich überaus übel angeschrieben waren, so warf man dort noch einen ganz besonderen Haß auf E. M. Oettinger. Dieser trieb es nämlich in seinem „Charivari“ allzu boshaft. In jeder Nummer desselben war beispielsweise jahrelang unter den Notizen, die den Gesammttitel „Zapfenstreich“ führten, eine Wiener „Neuigkeit“ folgenden Inhalts zu lesen: „Graf Sedlnitzky ist noch immer Präsident der hiesigen Polizei- und Censur-Hofstelle.“ Diese Notiz allein wäre unter den damaligen Verhältnissen hinreichend gewesen, Oettinger, falls er österreichischen Boden betreten hätte, nach dem gefürchteten Spielberg zu liefern.
Aber wären auch sämmtliche in Leipzig erscheinende, der frei-religiösen und politisch-liberalen Richtung huldigende Bücher und Zeitschriften, unter welchen letzteren wir hier beiläufig nur Ernst Keil’s unerschrocken kämpfenden „Leuchtthurm“ nennen, in Oesterreich verboten gewesen, sie hätten dort dennoch reißenden Absatz gefunden. Wir haben vorher von einer Reihe von Kriegslisten gesprochen, deren sich die Leipziger Verlagshandlungen bedient, um ihren in Oesterreich verbotenen Werken und Schriften Eingang zu verschaffen. Selbstverständlich bezogen sich jene Kriegslisten vor Allem auf die Art, wie die Bücherballen mit ihrem verbotenen Inhalte versendet, beziehungsweise über die österreichische Grenze gebracht wurden.
Da gab es gar mancherlei erfindungsreiche und nicht selten auch lustige Auskunftsmittel. Galt es z. B. ein verbotenes Buch in vielen Exemplaren nach Oesterreich zu bringen, so versah man jenes häufig mit einem anderen Umschlage und Titelblatt, worauf nicht eine Leipziger Buchhandlung, sondern eine befreundete, zuverlässige Firma in Baiern, Westfalen oder in den Rheinlanden als Verleger angegeben war, gegen welche Länder man, weil sie katholisch, in Oesterreich weniger Mißtrauen hegte, als gegen das „ketzerisch-demagogische“ Leipzig. So führte oftmals ein in Oesterreich streng verbotenes Buch auf seiner Reise dahin die salbungsvollsten Titel: „Stunden der Andacht für katholische Christen“, „Ausgewählte inbrünstige Gebete zur heiligen Jungfrau Maria“ und ähnliches mehr. Zur größeren Sicherheit entsprach auch noch der Inhalt der ersten Seiten des betreffenden Buches dem frommen Titel, wodurch die österreichischen Censoren, die unmöglich alle aus Deutschland[WS 2] angelangten Bücher vom Anfange bis zu Ende zu lesen vermochten, jahrelang getäuscht wurden.
Ueberdies war noch an der sächsisch-böhmischen Grenze eine geheime Buchhändlerpost organisirt, welche ganz geschäftsmäßig die Versendung von verbotenen Büchern und Zeitschriften nach Oesterreich besorgte. Nur in seltenen Fällen ward seitens der österreichischen Censur eine oder die andere dieser Kriegslisten entdeckt, was aber für den geheimen Bücherexport niemals von lange störenden Folgen begleitet war.
Zu der eben beschriebenen Versendungsweise mußte auch wieder während der Reactionsperiode zurückgegriffen werden, die in Oesterreich, nach der Märzbewegung, im October 1848 eingetreten war. Zu den damals in Oesterreich und Ungarn ganz besonders verfolgten, aber dennoch überaus verbreiteten Zeitschriften zählte in erster Linie Ernst Keil’s „Leuchtthurm“, der bekanntlich ein Vorläufer der „Gartenlaube“ war. Da der „Leuchtthurm“ den österreichisch-ungarischen Zuständen und Vorgängen eine eigene, von zahlreichen, tüchtigen Mitarbeitern unterstützte Rubrik gewidmet hatte, so war das, wir möchten sagen, öffentlich-geheime Interesse an jener Zeitschrift in fortwährender Zunahme begriffen. Der „Leuchtthurm“ ward nicht allein in vielen tausend Familien gelesen, sondern war auch, trotz des Verbotes, in jedem besseren Café Wiens, Pests und der größeren Provinzstädte zu finden. Freilich lag das Blatt nicht öffentlich auf dem Zeitungstische aus, aber ein Wink eines bekannten Gastes an den Oberkellner des betreffenden Cafés genügte, um von jenem, gegen ein gern gewährten Trinkgeld, den „Leuchtthurm“ zu erhalten, der alsdann in einer einsamen Saalecke, hinter irgend einem „gutgesinnten“ Reactionsorgane verborgen, aufmerksam gelesen ward. Mit einem Worte: je strenger ein Zeitschriften- oder Bücherverbot in Oesterreich lautete, desto größer war dahin der Absatz der betreffenden Schrift. Wenn man noch erwägt, daß in Oesterreich für ein verbotenes Buch oder eine verbotene Zeitschrift in der Regel das Dreifache, ja Vierfache des in Leipzig oder Deutschland geltenden Preises bezahlt wurde, so darf man wohl zu dem Schlusse gelangen, daß gerade durch solche Bücherverbote viele Leipziger Verleger glänzende Geschäfte machten. – Jene Zeit bildet also einen überaus interessanten culturhistorischen Abschnitt des Leipziger Buchhandels.
H. W. in Leipzig. Sie beschweren sich über die nach Ihrer Meinung falschen Daten in dem Artikel über Gustav Adolf von Professor Herman Semmig. Lassen Sie sich belehren! Bei der Kalenderverbesserung durch Papst Gregor den Dreizehnten (vergleiche „Blätter und Blüthen“ von Nr. 39) wurden vom 4. October 1582 an zehn Tage herausgeworfen, so daß man nach dem 4. sogleich den 15. October zählte. Nach diesem verbesserten Gregorianischen Kalender fällt die Zerstörung Magdeburgs auf den 20. Mai, die Schlacht bei Breitenfeld auf den 17. September und der Tod Gustav Adolf’s auf den 16. November. Die Protestanten behielten den Julianischen Kalender bis 1700 bei; daher schreiben sich die Daten 10. Mai, 7. September und 6. November, die auch Schiller beibehalten hat. In neuerer Zeit hat man aber die Daten des verbesserten Gregorianischen Kalenders auch auf diese Ereignisse übertragen. Unter Anderen schreiben David Müller, † Professor in Karlsruhe („Geschichte des deutschen Volkes“) und Anton Gindely, Professor an der Universität Prag („Geschichte den Dreißigjähriges Krieges. Leipzig. G. Freytag. 1882“): 20. Mai, 17. September und 16. November. Der Verfasser war also mit seinen Daten in vollem Rechte und Ihre unhöfliche Kritik – sehr übereilt.
Alte Abonnentin in Bremen. Ein Portrait Karl von Holtei’s finden Sie in den Jahrgängen 1860, Seite 36. und 1873, Seite 48.
D. V. in Odessa. Allerdings! Dem Vernehmen nach wird in San Francisco ein Garfield-Monument errichtet werden, dessen Sockel eine sitzende, sich auf ein Schwert stützende Frauenfigur aus Bronze bilden wird – eine Symbolisirung des trauernden Amerika. Die Seiten des Piedestals werden Adler zieren, von denen einer die Sinnbilder des Krieges und des Handels, der zweite das Banner und den Schild des Landes bewacht. Die Bronzestatue selbst wird eine Höhe von zehn Fuß haben, der Sockel aber die Inschrift: „James A. Garfield. Mortuus pro Republica“ tragen.
Ein langjähriger Leser in Minden. Näheren Aufschluß finden Sie im „Jagd-Lexicon“ von O. von Riesenthal (Leipzig, Bibliographisches Institut, 1882).
A. T. in Landau und N. N. in E. Schwindel!
A. E. in München. Ueber Respiratoren und Athmungsapparate zum Schutze gegen Staub, schädliche Luft etc. hat die „Gartenlaube“ belehrende Artikel geliefert: Jahrgang 1855, Seite 109, 1860 Seite 774, 1868 Seite 39 und 1878 Seite 20.
B. D. in Wien. Da Sie ein „Wiener Kind“ sind, so hat es Ihnen sehr nahe gelegen, den Ursprung des Wortes „Gassenhauer“ selbst zu errathen. In Ihrer schönen Vaterstadt existirt ja heute noch das Kraftwort „aufhauen“, welches „tanzen“ bedeutet. Ursprünglich nannte man einen Tanz auf der Gasse mit dreitheiligem Tacte einen „Gassenhauer“. Nach diesem Tanze wurde das auf der Gasse gesungene Lied benannt, eine Bezeichnung, die anfangs nichts Unziemliches bedeutete; erst als das Wort „Volkslied“ aufgekommen, sank der „Gassenhauer“ zu seiner heutigen Bedeutung herab.
Z. Z. in Düsseldorf. Da bei den elektrischen Glühlichtlampen von Feuersgefahr keine Rede sein kann, so darf man zur Herstellung von Lichtträgern für diese Lampen getrost brennbare Stoffe, wie z. B. Holz, verwenden. In der gegenwärtig zu München eröffneten internationalen elektrischen Ausstellung findet man bereits derartige in alterthümlichem Stil aus Holz angefertigte Kronleuchter. Ueberhaupt bietet die Anwendung des elektrischen Lichtes dem Kunstgewerbe ungleich mehr Gelegenheit, etwas Formvollendetes zu leisten, als dies bei anderen Beleuchtungsarten je möglich gewesen. Die Münchener Ausstellung wird in dieser Hinsicht gewiß Resultate von weittragender Bedeutung erzielen.
W. D. in Washington. E. Werner hat, wie bereits mitgetheilt, eine Erzählung: „Gebannt und erlöst“ für die „Gartenlaube“ unter der Feder.
- ↑ Bekanntlich existirt eine Ueberlieferung, welche wissen will, der germanische Tropfen in Garibaldi’s Blut stamme keineswegs vom Mittelalter her, sondern aus dem 18. Jahrhundert, wo der deutsche Junker Theodor von Neuhof eine Weile König von Korsika war. Eine Abkömmlingin dieses Abenteurers sei Garibaldi’s Mutter gewesen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Der erwähnte Beitrag nebst Illustration findet sich nicht in 50/1881, sondern in Nr. 48/1881.
- ↑ Vorlage: Deutschand